
Universität Regensburg, Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie, Lehrstuhl für Pädagogik
Symposium: Macht die Schule Schüler und Lehrer krank? 18.11.06
Wenn Lehrer Schüler seelisch verletzen
Ist die Würde des Schülers antastbar?
Ich mache ein Wort Bertolt Brechts zum Motto meines Vortrags:
Es gibt einige wenige Dinge, die den Menschen erschüttern,
einige wenige.
Aber das Schlimme ist, dass sie, mehrmals angewendet, schon nicht
mehr wirken. Denn der Mensch hat die furchtbare Fähigkeit, sich
gleichsam nach eigenem Belieben gefühllos zu machen. Diese Gefühllosigkeit
müssen wir überwinden.
Benjamin: „Die Schule ist ein Psycho-Krieg“
Bei Benjamin zum Beispiel. Er schreibt:
Der Wecker läutet. Es ist ein widerlicher Klang. Es klingt
nach Mathematik. Voraussichtlich nach Note 6. Lehrer Falkenstein sagt,
er sehe für meine Zukunft schwarz. Ich wäre einfach zu blöd.
In letzter Zeit nimmt er mich häufig dran. Weil er weiß, dass
ich nichts verstehe. Das befriedigt ihn irgendwie. An einem ganz normalen
Ausfrage-Tag sucht Falkenstein mit stechendem Blick ein Opfer. Der Schweiß
läuft mir über die Stirn. Ich will nicht ausgefragt werden.
Warum sagt er nicht gleich, wer drankommt? Warum trägt er mir nicht
gleich einen Sechser ein? Warum muss er mich quälen? Ich hasse es,
vor der Klasse zu rechnen. Ich blamiere mich immer. Falkenstein stellt
richtig gemeine Fragen. Ich zittere. Weiß gar nichts mehr, die wenigen
gespeicherten Brocken sind der Aufregung zum Opfer gefallen. Mein Magen
bläht sich auf. Gänsehaut huscht über meinen Körper.
Ich komme dran. Es muss ja so sein.
Falkenstein sagt mit tiefer kräftiger Stimme: "Lebert!
So zeigen Sie uns, wofür ich so lang geredet habe". Ich hasse
es, wie er "Lebert" sagt. So, als brächte er mich zum Galgen.
Wie in Trance erhebe ich mich zur Tafel. Male ein Zeichen. Zwei. Falkenstein
ist nicht zufrieden und entlässt mich auf meinen Platz. Nach dem
Unterricht sagt er. "Das mit deinem Abschluss kannst vergessen. Wie
ich es sehe, müssen wir froh sein, wenn das Kultusministerium für
dich keine Note 8 einführt.“ Die Schule ist ein Psycho-Krieg.
(Benjamin Lebert 1).
Dieser Krieg stürzt den Jugendlichen in eine Erlebnis-Katastrophe,
die Seele und Körper in Unordnung bringt. Die Angst löst Notsignale
aus: „Der Schweiß läuft mir über die Stirn.
Ich zittere. Weiß gar nichts mehr. Ich scheiße
mir fast in die Hose. Mein Magen bläht sich auf.“
Jede dieser seelisch-leiblichen Reaktionen kann zur psychosomatischen
Krise werden, wenn sie sich wiederholt. Und sie wiederholt sich, denn
die Erwachsenen können Schüler, die von Lehrern verletzt werden,
selten schützen.
„So ein Lehrer ist doch nur ein Einzelfall.“ Wenn Ihnen
dieser Satz über die Lippen geht, haben Sie sich bereits dem unpädagogischen
System unterworfen. Wie viel Einzelfälle dürfen es sein? Herr
Falkenstein verletzt mit seiner Abfrage-Folter über Jahrzehnte hinweg
Kinder in ihrem Selbstwertgefühl. Für Benjamin, halbseitig gelähmt,
gilt Erich Frieds „Rückschau in die Kindheit“:
Ich war ein Berg
den hat die Welt bestiegen
Ich musste ihr unterliegen
Ich bin ein Zwerg
Leute, ihr lacht
denn ihr versteht das nicht.
Mich hat ein großes Gewicht
klein gemacht
Lehrer haben ein großes Gewicht. Das kann Kinder klein
machen, das kann sie groß machen: wenn wir sie ankennen,
ermutigen, wenn wir menschlich aufmerksam sind, wenn wir Lehrer-Sein als
helfenden Beruf auffassen. Das gehört nicht zum Selbstverständnis
deutscher Schulen. 70 - 80 Prozent der Schüler beurteilen ihr Befinden
im Unterricht negativ. Einer von ihnen ist Stefan.
Lehrerworte, die auf Kinder wie Gift wirken – Stefans
Kränkung
Er und seine Mitschüler litten unter kränkenden Lehrerworten.
Die Eltern wagten nicht, sich zu wehren. In der Schule fällt
es Erwachsenen schwer, mutig zu widersprechen. Viele lernten in der eigenen
Schulzeit nicht Mut, sondern Autoritätsangst. Deshalb
kann Stefans Lehrer die Kinder ungestört beleidigen: „Das lernst
du nie.“ „Wie dumm sich der wieder anstellt!“ „Was
hast du denn auf dem Gymnasium zu suchen?“
Die herabsetzenden Worte wirkten auf Stefan wie Gift: „Gift, das
du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut“, schreibt Victor
Klemperer: „Sprache kann aus giftigen Elementen gebildet oder zu
Trägern von Giftstoffen gemacht werden. Worte können sein wie
winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, und nach einiger
Zeit ist die Giftwirkung doch da (2).“ Stefan spürte wie ihn
das Gift der Worte bedrückte, und er klagte über Bauchweh; aus
seelischem Schmerz wurde Leibschmerz, früher nannte man das Bauchangst.
Ich erlebe in Konfliktgesprächs-Gruppen mit Lehrern, in Therapien
und Interviews: Manche Menschen spüren lebenslang „winzige
Arsendosen“, die ihnen Lehrer durch herabsetzende Worte verabreichten.
Stefans Oberstudienrat liest bei der Aufsatzbesprechung mangelhafte Arbeiten
vor, ohne die Schüler um Erlaubnis zu bitten. Schwache lacht er aus.
Konrad Lorenz verweist auf den aggressiven, ausstoßenden Charakter
des Auslachens, er verbindet es mit dem Triumphgeschrei und schreibt:
„Das Lachen ist eine grausame Waffe, die bösen Schaden stiften
kann. Ein Kind auszulachen, ist ein Verbrechen. (3)“ Wie bei Stefan,
klagt dieses Verbrechen in der Schule niemand an. Schüler-Eltern
wie Lehrerkollegen, alle sind mit ihrem Kleinmut daran beteiligt,
wenn Lehrer ethische Grundhaltungen außer Kraft setzen. Denn am
Unrecht ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern
auch der, der es nicht verhindert.
Stefans Mutter fürchtete sich. Aber ihr Mitleid wurde
zur moralischen Kraft. Sie ging mit ihrer Angst zum Lehrer, griff
ihn nicht an, sondern ließ sich erkennen: mit ihrem Kummer und der
Not des Jungen. Sie sagte, wie kränkend sie es finde, das Kind bloß
zu stellen und bat ihn, den Jungen nicht mehr zu demütigen. Der Oberstudienrat
verteidigte sich: Stefan sei zu sensibel. Zu sensibel? Bräuchten
wir in unserer Welt nicht sensible Menschen? Wie haben „Sensible“
die Schule erlebt?
Michael: Die Schule war die schlimmste Zeit meines Lebens.
(Michael Ende)
Heinrich: Das Aufgerufenwerden war eine Zeremonie, vor der
ich zitterte, meine ganze Schulzeit lang. Und ich schleppte all die Jahre
die Fünf hinter mir her, wie ein Sträfling die schwere Kugel
an seinen Füßen. (Heinrich Böll)
Günter: Lehrergestalten hatten sich raumgreifend in meinen
Träumen breit gemacht. Meine Schulzeit war prägend für
mich. Narben blieben, die geheilt noch juckten. Gerüche hielten sich,
gegen die kein Lüften half. (Günter Grass)
Thomas: Ich ging in die Schule wie zum Schafott. Zitternd ging
ich hinein, weinend trat ich wieder heraus. (Thomas Bernhard)
Hermann: Unsere Lehrer forderten Tugenden von uns, die sie
selbst nicht hatten. An mir hat die Schule viel kaputt gemacht, mich herabgesetzt,
mich erniedrigt (Hermann Hesse)
Janosch: Das Schlimmste, was ich erlebt habe, war die Schule.
Wenn ich das noch einmal erleben müsste, würde ich lieber sterben.
Ich will schon allein deshalb keine Kinder haben, weil sie in die Schule
gehen müssten. (Janosch)
2006 gibt es Schüler mit der selben psychischen Not: Drei Viertel
von 3000 befragten Studenten beschrieben, wie sie unter einem Lehrer litten,
der sie ironisch behandelte, geringschätzig oder entwertend, sie
ängstigte und bloß stellte.
Zurück zu Stefan. Es schien, als hätte die Mutter den Lehrer
trotz seiner sozialen Kälte getroffen. Vielleicht kam Scham in ihm
auf über sein unanständiges Verhalten; denn er demütigte
Stefan nicht mehr. Wir bräuchten viele couragierte Mütter, die
Einspruch erheben, wenn Lehrer ihre Macht missbrauchen; denn in die Schule
ist kein Hauch von Demokratie eingedrungen. Da ist es „Tapferkeit
des Herzens“, wenn Mütter die Einsamkeit aushalten, in der
sie sich gegen eine kalte Schulbürokratie empören. Sie verstecken
sich nicht hinter dem Vorwand: „Wenn ich mich beschwere, muss es
mein Kind büßen.“ Kinder „büßen“,
wenn die Eltern nicht hinter ihnen stehen. Könnten wir,
nach dem Philosophen Emmanuel Lévinas, den „Bruch mit der
Gleichgültigkeit“ wagen?: sich sorgen um den Anderen, für
den Anderen verantwortlich sein, hier beginnt der Mensch (4).
Die peinlichen Worte bleiben in Erinnerung
Dazu müssten wir hinsehen, wahrnehmen und aufdecken.
Das tun Volker Krumm und Susanne Weiß (5)in ihren empirischen Arbeiten
zum „Macht-Missbrauch von Lehrern“. Sie registrierten unterschiedliche
Arten von Kränkungen. Häufig nannten die befragten Studenten:
Lehrer haben eine vorgefasste Meinung über das Leistungsniveau: „Mathematik
wirst du nie begreifen.“ Sie zweifeln seine Eignung für die
Schulform an: „Hier hast du keine Chance“. Kränkend
erleben Schüler, wenn sie der Lehrer bloßstellt, indem er Schwächen
vor der Klasse hervorhebt: „Jetzt zeig mal an der Tafel deine großartige
Leistung“. Er kritisiert Eigenschaften oder Aussehen der Schüler:
„Deine Langsamkeit nervt mich.“ In der Umkehr wird das unanständige
Verhalten deutlich: wenn nämlich der Schüler zum Lehrer sagen
würde „Wie dumm Sie sich wieder anstellen!“ „Das
Unterrichten lernen Sie wohl nie.“ „Was haben Sie denn, Herr
Oberstudienrat, auf dem Gymnasium zu suchen?“ „Sie sind einfach
zu blöd.“
75 Prozent der befragten Studenten sagten, die Kränkung durch einen
Lehrer beschäftige sie heute noch. Die peinlichen Worte
bleiben in Erinnerung. Auch Lehrer Gregorius behielt Verletzungen durch
seine Lehrer lange im Gedächtnis: „Schwerfällig.“
Er hatte in dumpfer Betäubung dagesessen. Es traf ihn an einem verletzlichen
Punkt. „Bin ich ein Langweiler?“ fragte er sich. „Warum
taten diese Dinge so weh, auch jetzt noch, warum war es ihm in dreißig
Jahren nicht gelungen, sie abzuschütteln?“ Er war Jahrzehnte
ein geachteter Lehrer und noch immer bewegte ihn die peinliche Erinnerung;
er schreibt:
Gab es das eigentlich: dass man Verletzendes einfach abschüttelte?
Wir sind weit in die Vergangenheit ausgebreitet. Das kommt durch unsere
Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber
bestimmen, wer wir sind, und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle
kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht
(6).
Was lässt in Kindern beleidigende Worte so lange haften? Es sind
moralische Verletzungen, die sie unmittelbar in ihrem Selbstwert treffen.
Geistige Mittel, um die Verwundung abzuwehren, haben Erwachsene,
aber nicht Schulkinder. Zur Abwehr „gehören der spontane Protest,
den Verletzer sofort zur Rechenschaft zu ziehen, oder falls dies nicht
möglich ist, der Vorsatz, sich zu gegebener Zeit Genugtuung zu verschaffen.
(7) “
Schüler sind jedoch der Verletzung total ausgesetzt. Ihnen bleibt
nur der „Rückzug auf sich selbst“. Mütter berichten
oft, das Kind sei sprachlos geworden. Dem gekränkten Schüler
bleibt „die Resignation, die Umdeutung der Szene, das Nicht-wahrhaben-Wollen
des Geschehenen“ oder gar die Verinnerlichung der Verletzung als
„unbewusst verdiente Strafe“. Oder er unterwirft sich dem
Aggressor total. Diese Rückzugsmöglichkeiten werden besonders
dann eingesetzt, wenn die Kinder zu Hause allein gelassen. Sie erleben,
dass ihre Mütter und Väter machtlos sind oder sich gar auf die
Seite des Lehrers stellen: „Da musst du durch!“ Manchmal kommt
es vor, dass der aufgestaute Zorn schwer gekränkter Jugendlicher
sich selber Recht zu sprechen meint und gegen den Beleidiger mit Gewalt
vorgeht. Auf andere trifft Peter Sloterkijks Wort zu. „Wie es die
eiternde Wunde gibt, durch die das Übel chronisch und generell wird,
so auch die psychische und moralische Wunde, die sich nicht schließt
und eine eigene verdorbene Zeitlichkeit erzeugt – die schlechte
Unendlichkeit der unerledigbaren Beschwerde.“
Erwachsene haben die Einrichtung der Gerichtsverfahren, die „den
Opfern von Gewalt und Unrecht Wiedergutmachung in Aussicht stellt“.
Kinder und ihre Eltern können sich selten Rechtsbeistand leisten
– gegen Lehrer, die mehrfachen Rechtsschutz genießen:
durch ihren Berufsverband, den Schutz als Beamte, und oft durch eine private
Rechtsschutzversicherung. Diesen Schutz hatte Lehrer A.. Bei ihm mussten
Kinder „unerledigbare Beschwerden“ erdulden.
Seelischer Sadismus - Ein psychisch kranker Lehrer macht Kinder
krank
Dieser Lehrer sah sich gezwungen, eine Psychotherapie zu beginnen;
denn ihm sollte wegen destruktiver Fahrweise die Fahr-Erlaubnis
entzogen werden. Das verschaffte ihm Leidensdruck. Keinen Leidensdruck
bereitete ihm, destruktiv Kinder zu „überfahren“, indem
er sie psychisch schwer verletzte; denn er brauchte nicht zu fürchten,
dass ihm die Lehr-Erlaubnis entzogen wird. So konnte er seine
psycho-neurotische Erkrankung an den Kindern ausleben.
Er „machte die Jugendlichen stündlich zur Sau“, wie
die Schüler sagten, gab ihnen seitenlange Strafaufgaben, traktierte
sie mit „Kopfnüssen”, erteilte täglich Verweise
und Arrest. Schwache Kinder verhöhnte er. Er „haute”
den Schülern ihre Fünfen und Sechsen ins Heft, als würde
es ihm, so meinte ein Schüler, Lust bereiten. Alle fürchteten
ihn, eine Reihe von Jugendlichen reagierte mit Übelkeit und anderen
psychosomatischen Symptomen.
Es handelt sich um seelischen Sadismus: Der Lehrer demütigt
Kinder vorsätzlich, verletzt sie bewusst, macht Schüler
abhängig, übt Gewalt über sie aus, möchte
sie unterwerfen. Ein sadistischer Mensch quält andere, weil
er an einer „Verhärtung des Herzens” erkrankt ist. Er
kann sich selbst nicht zur geliebten Person machen. Dieses Unvermögen
gleicht er mit der zerstörerischen Leidenschaft aus, Macht über
andere zu haben, sie zu beschämen und zu erniedrigen. Herrn A.s Lehrerschicksal
wurde zum Schülerschicksal.
In der Psychotherapie zeigte sich – und ich greife nur einen
Schwerpunkt heraus: Er behandelte Kinder ebenso gewalttätig, wie
er selbst behandelt wurde und praktizierte genau die Quälereien,
die ihm widerfuhren. Sein Vater – auch Lehrer – erstickte
eigenständige Regungen des Kindes und forderte blinden Gehorsam.
Er verbot dem Jungen zu weinen, wenn er ihn verprügelte. Ein wiederkehrender
Angsttraum: „Ein Riese verfolgt mich; er fängt mich mit Expandern
ein, fesselt mich und hängt mich an einen Baumast, an dem ich in
panischer Furcht zapple.”
In seiner kindlichen Ohnmacht erwuchs in ihm der unbewusste Wunsch,
so mächtig zu werden wie der gehasste Vater. Dann könnte er
der Unterdrückung entgehen und selbst Macht ausüben. Ohne dass
er das erkannte, rächte sich Lehrer A. an den Schülern für
das ihm zugefügte Leid. Er wiederholte aktiv, was er vom
peinigenden Vater passiv erdulden musste. Das Motto seiner unbewussten
Wieder-Inszenierung lautete: „Wie er mir, so ich Dir!”
Die neurotische Berufswahl solcher Lehrer wird zum Unglück Tausender
von Schülern. Das wird möglich durch die Gleichgültigkeit
oder Resignation von Lehrerkollegien, Schulbehörden, Eltern und Elternbeiräten.
Sie stehen den Kindern zu wenig bei, sie helfen auch dem schwierigen Kollegen
nicht. In dieser moralischen Apathie erwächst für die „Verantwortlichen”
kein Grund, Lehrer auf ihre charakterliche Eignung hin für den pädagogischen
Umgang mit Kindern zu überprüfen. Psychologische Möglichkeiten
dazu gäbe es.
Ein psychisch erkrankter Lehrer wie Herr A. müsste vor die Entscheidung
gestellt werden, seine Konflikte zu bearbeiten oder den Lehrberuf aufzugeben.
Aber er wurde lediglich – bereits zweimal – versetzt, um an
anderen Kindern das Unrecht fortzusetzen.
Auch „schwierige“ Lehrer brauchen Hilfe
Herr A. hätte dringend der Hilfe bedurft. Aber die Schul-Aufsicht
deckte seinen Macht-Missbrauch jahrelang. Konfliktbearbeitung
wäre bereits möglich gewesen in der Konfrontation durch kollegiale
Gespräche, in Einzelberatung, Gruppen-Supervision, einer Selbsterfahrungsgruppe,
in Psychotherapie.
In Schulsystemen von Ländern, deren Schüler gute Leistungen
aufzeigen, werden das emotionale Erleben und die soziale
Kontaktnahme ernst genommen. Bei uns erleben viele Jugendliche die
Lehrer-Schüler-Beziehung als distanziert und Macht behauptend. Gilt
Erich Kästners Einschätzung immer noch? „Unsere Lehrer
besaßen zwar ein respektables Wissen, aber nicht den entsprechend
respektablen Charakter. Es kann nicht früh genug darauf hingewiesen
werden, dass man die Kinder nur dann vernünftig erziehen kann, wenn
man zuvor die Lehrer vernünftig erzieht. (8)“
Die „Erziehung“ der Lehrer wird Kindern durch eine unzureichende
Lehrerausbildung verweigert. In ihr geht es um „Lerngegenstände“,
nicht um Kinder, nicht um die Person des Lehrers. Die
Wissenschaft vom Menschen spielt kaum eine Rolle: Pädagogik,
Entwicklungs- und Lernpsychologie, Neurobiologie, Philosophie, Sozialpädagogik,
Tiefenpsychologie.
Lehramts-Studierende haben in ihrer Ausbildung nicht gelernt, mit Menschen
umzugehen. Sie kommen dann in die Schule, und es sitzen plötzlich
– oh Schreck – Kinder vor ihnen, wo sie doch alles
über Sachen gelernt haben. Weil sie nicht lernten pädagogisch
zu handeln, verfallen sie leicht dem Machtprinzip. Sie wissen sich nicht
anders zu helfen, als Schüler durch ihre Lehrer-Überlegenheit
zu zwingen. Aber über eine Schulklasse Macht auszuüben,
ist anstrengend; kein Wunder, dass so viele Lehrer krank werden. Die „Krankheit
der Macht“ schädigt nicht nur die Schüler, sondern auch
die Lehrer selbst. Es schädigt sie die der Macht innewohnende Gleichgültigkeit
und Rücksichtslosigkeit und der damit verbundene Verlust an Sympathie
von Seiten der Schüler. Sie unterrichten dann als „Lehrplan-Vollzugsbeamte:
„Schließlich muss ich meinen Stoff durchnehmen.“ Die
Kränkung, in einem Klima ohne Sympathie, ohne Freude unterrichten
zu müssen, ist in meinen Lehrergruppen oft ein bewegendes Thema.
Für die seelische Gesundheit von Schülern und Lehrern muss
die Lehrerausbildung zum Erfahrungsraum werden für all das,
was Lehrerinnen und Lehrern hilft, Jugendliche zu verstehen,
Lern- und Entwicklungsprozesse zu unterstützen. Dazu gehört
auch, sich eingehend mit der eigenen Lehrer-Lerngeschichte zu befassen.
Unterricht wird dann zur helfenden Beziehung.
Die schwere Lernstörung der Politiker schadet den Kindern
Derzeit müssen Lehrerinnen und Lehrer in unpädagogischen
Schul-Strukturen arbeiten, die Schüler und Lehrer leib-haftig
krank machen können. Da dürften sich Kinder über PISA freuen,
wenn Politiker fähig wären, zu lernen. Die Studie zeigt, wie
Jugendliche in erfolgreichen PISA-Ländern durch ein sozial freundliches
Schul-Klima lieber lernen und mehr leisten. Aber deutsche Bildungspolitiker
scheinen an einer schweren Lernstörung erkrankt zu sein: sie tun
genau das Gegenteil von dem, was die Studie nahe legt.
-
In Ländern mit leistungstüchtigen Schülern gibt es
keine Noten bis zum 8., 9. oder 10. Schuljahr. In Schweden
ist das Zensieren strikt verboten. Bei uns werden Kinder bereits im
zweiten Schuljahr mit Ziffern traktiert und von da an geht es vor
allem um Bewertung und Entwertung. Klar, dass in einer Schule, die
ständig mit Prüfen beschäftigt ist, wenig Zeit zum
Lernen bleibt. Wir bräuchten eine Lernschule, statt
einer Prüfschule, dann müsste Alex nicht schlecht träumen:
„Am schlimmsten ist es in der Nacht vor der Probearbeit. Ich
schlafe sehr unruhig und träume von guten, allerdings oft von
schlechten Noten. Ich kämpfe sozusagen mit den Noten auf Leben
und Tod. In dieser Nacht fallen die Noten über mich her, da kann
ich gar nichts dagegen machen.“ Wir könnten etwas
dagegen machen.
-
Viele Jahre gemeinsamen Lernens in einer Klasse ist ein
Merkmal, das nicht nur ein sozial angenehmes Lernklima schafft, sondern
auch die Leistung steigert. Zum Beispiel im erfolgreichen Südtirol,
das sogar Bayern überflügelt. Dort lernen Jugendliche miteinander
bis zum 8.Schuljahr. Bei uns werden sie in der 4. Klasse aussortiert
und voneinander getrennt. Diese inhumane Selektion ist zudem fahrlässig,
denn man kann bei zehnjährigen Kindern nicht voraussagen, wie
sie sich entwickeln. Bei Andreas urteilte der Lehrer: Dieser Junge
ist ungeeignet fürs Gymnasium. Sein Vater war Professor
und ließ den Jungen dennoch übertreten. Ungeeignet?: Abiturnote:
1,0, heute oberster PISA-Koordinator: Andreas Schleicher.
-
In Ländern mit guten Leistungen gibt es kein Sitzen-Bleiben.
Bei uns werden 250.000 Schüler sitzen gelassen in ihrem Sitzenbleiber-Elend.
In Finnland gilt das Motto: „Kein Kind darf verloren gehen.“
In welchem Ausmaß deutsche Schüler verloren gehen,
zeigt Hans Brügelmann in einer soeben erschienen Untersuchung:
„Fast 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben
mindest eine der folgenden Maßnahmen erlebt: Zurückstellung
am Schulanfang; Nichtversetzung; Überweisung in die Sonderschule,
Abschulung in eine niedrigere Schulform. Die Konsequenz:
häufige Misserfolgserfahrungen (9)“ , welche die Lernmotivation
und die seelische Gesundheit angreifen.
-
In Ländern mit guten Ergebnissen wird mehr Geld für Schulen
ausgegeben als in der Bundesrepublik, zum Teil doppelt so viel. In
Deutschland wird an den Kindern gespart. Da muss nachmittags ein Heer
unentgeltlicher Nachhilfe-Mütter und teuer bezahlter „Schülerhelfer“
in Paukstudios antreten; sie müssen nachholen, was vormittags
versäumt wurde. Das Helfen wird in der Schule verweigert
und an den freien Markt delegiert; aber die Mütter und Väter
zahlen, statt zu protestieren. Eltern, die Nachhilfe nicht
bezahlen können, müssen oft erleben, wie ihre Kinder im
nach unten durchlässigen Schulsystem abstürzen,
womöglich in die „Schule der Vergessenen“, die Hauptschule.
Nachhilfe bräuchten die Lehrer. Sie müssten
durch Weiterbildung unterstützt werden, erfolgreich zu unterrichten
und mit Schülern eine Beziehung einzugehen, die deren Ich stärkt.
Ich könnte die Symptome der Lernstörung von Politikern lange
fortsetzen. Es scheint, als haben pädagogische Vernunft und humanes
Denken keine Chance. „Unrecht“, schreibt Bertolt Brecht, „Unrecht
gewinnt oft Rechtscharakter dadurch, dass es häufig vorkommt.“
Das wird für Marie dramatisch.
Marie: „Vorrücken gefährdet!“ „Das
ist doch nur ein Warnschuss!“
Sie erschrickt, als sie im Zwischenzeugnis liest: „Vorrücken
gefährdet“. „Ich bin gefährdet“,
sagt sie, „vielleicht muss ich sitzen bleiben.“ Der Doppelsinn
ihrer Worte ist ihr nicht bewusst: „Ich bin gefährdet!“
Kinder erleben sich in ihrer ganzen Person bedroht.
Die Mutter begibt sich mit Marie zur staatlichen Schulberatung. Der
Bildungsberater beruhigt das Mädchen freundlich: „Da brauchst
du dich nicht zu sorgen; der Vermerk Vorrücken gefährdet’
ist doch nur ein Warnschuss!“ Nur ein Warnschuss? Unbekümmert
geht hier ein Begriff aus dem Wortschatz des Krieges in die Schule ein.
Sind wir denn im Krieg, dass Kinder mit Schüssen gewarnt werden?
Ja: Lehrer müssen mit schlechten Noten auf jene Kinder zielen,
die sich schwer tun. Solche Schüsse können Jugendliche verletzen.
Marie versuchte die Klasse doch noch zu schaffen, sie nannte es einen
„Kampf ums Überleben“. Ihr Kopfschmerz drückte aus,
wie angespannt sie war. Als die Lehrer sie schließlich „gerecht
durchfallen“ ließen, war sie lange traumatisiert. Sie fühlte
sich in der fremden Klasse einsam, getrennt von Freundinnen, unbeachtet
von neuen Lehrern; denn niemand nimmt sich um eine „sitzen gelassene“
Schülerin an. Dabei möchte man meinen: Wenn ein Kind in Not
gerät, stehen ihm Erwachsene tröstend bei?
Maries Leistungen brachen durch die Erlebniskatastrophe des „Durchfallens“
in allen Fächern ein und sie litt unter nächtlichem Aufschrecken.
Für das Mädchen zerbrachen die gewohnten Bindungen und es verlor
seine Selbstachtung. Obwohl ihre seelische Krise erkennbar mit schulischen
Kränkungen zusammenhing, schrieben Lehrer und Schulleiterin die psychosomatischen
Symptome allein dem Kind und den Eltern zu. Lehrer gestehen selten
ein, dass Schulschwierigkeiten nicht nur ein individuelles Problem
sind, sondern auch ein schulgemachtes. Sie erwarten, Kinder müssten
schulgeeignet sein, nicht die Schule kindergeeignet?
Ich verallgemeinere Beispiele verletzenden Lehrerverhaltens
nicht. Ich war selbst Lehrer, lehrte und forschte drei Jahrzehnte in der
Lehrerausbildung und arbeite bis heute mit Lehrerinnen und Lehrern in
Supervisions-Gruppen und in Einzelberatung, früher auch in analytischer
Psychotherapie. Mit Respekt begleite ich ihr pädagogisches Engagement.
Die Demütigenden sind jedoch der öffentlichen Rede
wert, denn es handelt sich um viele Kinder, die von der Destruktivität
weniger Lehrer geschädigt werden.
Wenn Eltern Kritik an Schule und Lehrerverhalten üben,
reagieren nur 32 Prozent der Lehrer positiv darauf. 68 Prozent der Eltern
erlebten negative Reaktionen der Lehrer, die zuvor Kinder schwer
gekränkt hatten. Nach den Studien von Volker Krumm und Susanne Weiß
(10) haben sich nur sieben Prozent für ein Verhalten entschuldigt,
das die überwiegende Mehrzahl von 1.200 Eltern und Lehrern in einer
Befragung als pädagogisch inakzeptabel beurteilt hat. Dieser Befund
weist darauf hin, dass sich viele Lehrer in Konfliktsituationen mit Eltern
in einer starken Position erleben: Wer Macht hat, braucht nichts zu lernen,
braucht sich nicht zu ändern“, schreiben die Autoren. Nur wenn
sich viele Eltern pädagogisch sachverständig machen und sich
mit kinderfreundlichen Lehrern in demokratischem Engagement zusammenschließen,
können sie an dieser Machtposition rütteln.
Da erschiene es als Chance, dass derzeit die Unzufriedenheit mit der
Schule wächst: 1993 meinten noch 63 Prozent , ihr Kind ginge gern
zur Schule. Nach einer Befragung des Instituts für Schulentwicklung
der Universität Dortmund sank der Wert im Jahr 2004 auf 40 Prozent.
Und nur noch 32 Prozent der Eltern haben volles Vertrauen zu den Lehrern
der Kinder (11). Dass rund 60 Prozent der Schüler nach Eltern-Meinung
nicht gern zur Schule gehen, müsste alarmieren. Aber es kommt keine
Bewegung für eine pädagogische Schule in Gang, denn
vielen ist Autoritätsangst und Gehorsamsbereitschaft tief
eingewurzelt. Andere sind im einseitigen Leistungsdenken befangen:
ihr Kind soll vor allem als „Schüler“ funktionieren;
dabei spielen auch Zukunftsängste mit. Wieder andere meinen in emotionaler
Gleichgültigkeit: „Uns hat es auch nicht geschadet“,
sie dürfen nicht wahrnehmen, wie es ihnen geschadet hat.
Eine Lehrerin tritt mit sozialem Mut für Kinder ein - Zuhören
Anfangen, die Schule zu humanisieren: Indem sich pädagogisch aufgeklärte
Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schüler persönlich
engagieren, und aus diesem Engagement heraus politisch handeln.
Frau H. war an ihrer Schule Verbindungslehrerin – Vertrauenslehrerin.
Kinder flehten sie an: „Bitte helfen Sie uns, die neue Lehrerin
ist so streng, sie schreit die Schwachen an, stellt sie in die Ecke, manche
Kinder weinen, weil sie sich vor ihr fürchten.“ Frau H. tröstete:
die neue Lehrerin sei eben anders, sie würden sich daran gewöhnen.
Die Vertrauenslehrerin merkte allerdings, wie sie wegschauen wollte: das
Tabu über verletzendem Lehrerverhalten wirkte auch bei ihr. Ihre
Schülerinnen ermunterte sie zu Zivilcourage – und ihr fehlte
selbst der Mut? Ihr Mitleid mit den Kindern machte sie mutig.
Für Rousseau offenbart sich die allgemeine Menschennatur nicht in
der Vernunft, sondern mit Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen,
einen Mitmenschen leiden zu sehen. Diesen Widerwillen spürte die
Lehrerin.
Sie wagte den Konflikt und bat die Kollegin um ein Gespräch. Dabei
ließ sie sich mit dem Kummer der Kinder erkennen, und mit ihrem
eigenen Denken. Die Kollegin verteidigte sich: Kinder würden lügen
und seien zu empfindlich. Frau H. blieb bei ihrem Vorsatz, nicht persönlich
anzugreifen, sondern alles zu versuchen, um im Gespräch zu bleiben.
Sie schlug der Kollegin vor, sich mit ihr und der unglücklichen Klasse
zusammenzusetzen und zu hören, welche Ängste und Wünsche
die Kinder haben.
Die beklagte Lehrerin zögerte lange, aber schließlich fand
sie sich bereit. Beide vereinbarten, den Kindern nur zuzuhören,
keine Gegenrede zu führen. Das wurde ein bewegendes Kreisgespräch.
Die Mädchen und Jungen brachten taktvoll vor, was sie bedrückte.
Sie sprachen davon, wie sie sich schämen, wenn sie mit Fehlern bloßgestellt
werden. Sie beklagten, wie schlimm es die Schwächeren finden, dass
die Lehrerin eine Leistungs-Rangordnung öffentlich aufstellte: Monika
ist die dreiundzwanzigste von vierundzwanzig. Und sie brachten Wünsche
vor: die Lehrerin möge nicht so viel schimpfen, ein persönliches
Wort an sie richten, auch einmal lachen. Alle berührte diese Art
des Sprechens und Zuhörens.
Die Kollegin konnte nicht ihren Charakter ändern. Aber sie war
taktvoller und hob die bloßstellende Rangliste auf. Sie blieb im
Kontakt mit der helfenden Lehrerin, erleichtert darüber, nicht mehr
Außenseiterin zu sein. Sie nahm an einer Supervisions-Gruppe teil.
Klagen von Kindern und Eltern verstummten.
Frau H. half durch ihr couragiertes Handeln den Kindern, der Kollegin;
und sie tat etwas für sich: Sie wahrte ihr Lehrerinnen-Selbstbild.
Solche Tabu-Brüche bräuchten wir tausendfach, wenn Lehrer Schüler
seelisch verletzen: den Tabu-Bruch durch Lehrerkollegen, Eltern, Schulleiter,
Ärzte, Psychologen, Erziehungswissenschaftler, Politiker.
Das Zuhören der Kolleginnen im vorangegangenen Beispiel
– einander zuhören und den Kindern – brachte eine kleine
Schulreform in Gang. In seinem poesievollen Märchenroman „Momo“
(12) beschreibt Michael Ende die Kunst des Zuhörens an seiner Fantasie-Figur,
dem weisen Mädchen Momo:
Wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war ganz und gar einmalig.
Wenn jemand meinte, sein Leben sei bedeutungslos
und er selbst nur irgend einer unter Millionen,
einer, auf den es überhaupt nicht ankommt
und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf -
wenn der hinging und erzählte alles das der kleinen Momo,
dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise
klar,
dass er sich gründlich irrte. Dass es ihn, genau so wie er war,
unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab,
und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig
war.
So konnte Momo zuhören! Michael Ende
Machen wir uns ab und zu bewusst, dass es dieses Kind unter
allen Menschen nur ein einziges Mal gibt, wie auch Sie und mich? Und dass
es deshalb auf seine Weise für die Welt wichtig ist? Momos
Zuhören ist Liebe; womöglich bringen wir die nicht
auf. Aber wir könnten Jugendlichen aufmerksam zuhören; jetzt
ganz für das Kind da sein, Jugendliche so ernst nehmen wie Erwachsene.
Nicht mit halbem Ohr hinhören, sondern „ganz Ohr“
sein: Wer fühlen will, muss zuhören – auch den
Lehrern, die Kindern das Leben schwer machen.
Mit sozialem Mut für eine Humane Schule eintreten
Wir könnten eine Humane Schule schaffen, in der Kinder
mit Freude lernen und Lehrer begeistert unterrichten, in der Jugendliche
in ihrer Eigenheit geachtet und ernst genommen werden. Eine Schule,
in der Eltern und Lehrer für die seelische Unversehrtheit der Kinder
einstehen und in der sie vorleben, wie man mit Schwierigkeiten
zurecht kommt, wie man Kritik übt und für Kritik offen ist.
Eine Schule, in dem Schüler aktiv die Welt entdecken dürfen
und in einem anregenden Unterrichtsklima leistungsfähig werden. Eine
Schule, in der Lehrer und Eltern „sich allen Verhältnissen
widersetzen, auch Dienstvorschriften, die die humanen Vorsätze behindern
(13) “ .
Dazu müssen wir Gleichgültigkeit überwinden und sozialen
Mut wagen. Erich Fromm (14) meint: „Es gibt nicht mehr das Böse
im Gegensatz zum Guten; vielmehr gibt es eine neue Unmenschlichkeit: die
Gleichgültigkeit – die Entfremdung gegenüber dem Leben,
die Haltung des Menschen, „der sich nicht kümmert, der nicht
seines Bruders Hüter ist.“ – Eltern, Lehrer und Schüler
begründen ihren Verzicht auf demokratischen Protest oft damit, er
nütze ja doch nichts. Aber: „Wer sich in einer verkehrten Welt
einrichtet, wird selbst verkehrt“. Wenn das Engagement für
eine Humane Schule aussichtslos erscheint, sind wir erst recht
aufgerufen, uns moralisch einzumischen: besonders Sie und ich, die wir
einen helfenden Beruf ausüben.
(1) Benjamin Lebert: Crazy (1999) S.123-126, gekürzt
(2) Victor Klemperer: LTI Notizbuch eines Philosophen (199616)
(3) Konrad Lorenz: Das sogenannt Böse (1966)
(4) Emmanuel Lévinas: Zwischen uns (1995) S.8
(5) Volker Krumm und Susanne Weiß: Machtmissbrauch von Lehrern
in Österreich (2002) S.6
(6) Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon (2004) S.442
(7) Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit (2006) S.79,80
(8) Erich Kästner: Lesebuch (1978) S.61
(9) Hans Brügelmann: Sind Noten nützlich und nötig? (2006)
(10) Volker Krumm und Susanne Weiß: Wie reagieren Eltern, wenn
ein Lehrer ihr Kind kränkt? (2005)
(11) Martin Spiewak: Ein deutscher Klassenkampf. In: DIE ZEIT Nr.43
(2005)
(12) Michael Ende: Momo. Ein Märchen-Roman (1990)
(13) Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken (1993)
(14) Erich Fromm: Die Gleichgültigkeit als neue Erscheinungsform
des Bösen. Gesamtausgabe Band 11 (1999) S.281

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