Prof. Dr. Kurt Singer
Vortrag in Luxemburg am 11. November 2003
Mit Interesse lieber lernen und mehr leisten
Wie können Eltern, Lehrerinnen und Lehrer Interesse
wecken, die Lernbereitschaft anregen und den Leistungswillen stärken?
Ein Genie, das die Schule verweigerte – „Du Hohlkopf“
sagte der Lehrer
Interesse ist der halbe Lernerfolg. Interesse beflügelt das Lernen
Das kennen Sie von sich – darüber spreche ich zu Ihnen. Zu
Beginn berichte ich von einem ungewöhnlich interessierten Kind, das
weltberühmt wurde. Dem Jungen hat die Schule nicht gefallen. „Ich
kann mich erinnern“, sagt er „dass ich in der Schule nie zurecht
kam. Ich war immer der Letzte in der Klasse. Ich hatte das Gefühl,
mein Lehrer mochte mich nicht, und mein Vater meinte, ich sei dumm.“
Drei Monate ging das so. Da nannte der Lehrer den Jungen vor der Klasse
einen Hohlkopf. Den Achtjährigen traf das so sehr, dass er aus dem
Klassenzimmer schnurstracks nach Hause lief und seiner Mutter erklärte:
„Ich werde nie mehr in die Schule gehen.“
Er hat sein Wort gehalten und kehrte nie mehr in seine Dorfschule zurück.
Aber er besuchte auch niemals eine andere Schule, weder ein Gymnasium,
noch die Universität. Dennoch wurde er einer der genialsten Erfinder
der Welt. Mehr als tausend Patente sind an seinen Namen gebunden. Er konstruierte
ein Mikrophon, verbesserte das Telefon, erfand die elektrische Glühlampe,
baute ein Filmaufnahmegerät, erfand einen Vorläufer des Grammophons,
und eröffnete das erste Elektrizitätswerk der Welt.
Dass er der Schule entkam war möglich, weil es damals keine Schulpflicht
gab. Nachdem er wegen des beleidigenden Lehrers – “Du bist
ein Hohlkopf“ – wütend nach Hause kam, war die Mutter
bereit, ihn selbst zu unterrichten. Er sagte später: „Meine
Mutter hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie verstand mich, sie ließ
mich meinen Neigungen nachgehen. Sie vermittelte mir die Liebe
zum Lernen.“ Der berühmte Erfinder war Thomas Alva Edison.
Seine Eltern unterstützten seine Neigungen folgen, förderten
seine Interessen und die Freude am Lernen. Wir sehen an dieser
wahren Geschichte, was bedeutsam dafür ist, dass Kinder Lern-Interesse
entwickeln: das Entdecken von Neigungen, die Lust am Lernen, die Beziehung
zum Lehrer, in dem Fall der Mutter – und das Wahrnehmen des Kindes
in seiner Eigen-Art; denn jedes Kind ist anders.
Das „gute Wort“, das Kinder aufrichtet – Hermann
Hesses verehrter Lehrer
Sie selbst werden erlebt haben: Interesse ist der halbe Lernerfolg.
Interesse beflügelt das Lernen Das kennen Sie von sich – darüber
spreche ich zu Ihnen.
Viele Menschen erlebten in ihrer Schulzeit: Es hängt auch mit der
Person des Lehrers zusammen, ob Schüler bereitwillig lernen können
oder nicht. Der Schriftstellen Peter Bichsel erzählt: „Ich
erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Schultag. Ich erinnere mich,
wie ich mich augenblicklich in meine Lehrerin verliebte. Das ist für
mich die einzige Erklärung dafür, dass ich kein Schulversager
wurde. Ich könnte ihr Kleid heute noch beschreiben.“ –
Umgekehrt können verhasste Fächer mit abgelehnten Lehrern zusammenhängen.
Interesse wächst erst später über Sachen. Zunächst
gedeiht Lerninteresse in einer guten Eltern-Kind-Beziehung und in einer
ermutigenden Lehrer-Schüler-Beziehung.
Das zustimmende Wort bestärkt Schüler ganz besonders
in ihrem Lernwillen. Sie lernen lieber, wenn Eltern und Erzieher sie als
Person wahrnehmen, wenn Kinder merken: die Mutter, der Vater,
die Lehrerin sieht mich, sie meint mich persönlich.
Hermann Hesse erzählt aus seiner Schulzeit, wie anspornend das hoffnungsvolle
Wort auf ihn wirkte. Er schreibt:
Ich hatte einen Lehrer, der mich ungemein zum Lernen beflügelte..
Es war sein hoffnungsvolles Wort, das mich antrieb. „Ich, der ich
stets ein empfindsamer und kritischer Schüler war und mich gegen
jede Abhängigkeit und Untertanenschaft bis aufs Blut zu wehren pflegte,
ich war von diesem geheimnisvollen Alten eingefangen und völlig bezaubert
worden, einfach dadurch, dass er an die höchsten Strebungen und Ideale
in mir appellierte. Er sah meine Unreife, meine Unarten, meine Minderwertigkeiten
scheinbar gar nicht: er setzte das Höchste in mir voraus. Er brauchte
nicht viele Worte, um ein Lob auszusprechen. Wenn er zu einer Arbeit sagte:
’Das hast du ganz nett gemacht, Hesse’, dann war ich für
Tage glücklich und befeuert. Und wenn er einmal, nur so im Vorbeigehen
mir zuflüsterte: ’Ich bin nicht recht zufrieden mit dir; das
kannst du besser machen“, dann litt ich und gab mir wilde Mühe,
den Halbgott wieder zu versöhnen.“
Anerkennen, statt nur loben – Genau hinsehen
Hermann Hesses Lehrer interessierte sich für den Schüler.
Er nahm Anteil an ihm, versuchte dessen Eigen-Art zu entdecken. Damit
stärkte er das Selbstwertgefühl des Jugendlichen, unterstützte
dessen Glauben an sich selbst. Es motiviert zum Lernen, wenn Eltern und
Lehrer Kindern etwas zutrauen, aber sie nicht überfordern.
Dann wächst in ihnen Hoffnung auf Erfolg. Hermann war für Tage
glücklich und befeuert, wenn sein Lehrer ein anerkennendes Wort für
ihn fand. Denken Eltern, Lehrerinnen und Lehrer an das gute Wort? Sie
unterschätzen leicht, wie nachhaltig sich ihre Bemerkungen und Urteile
auswirken – manchmal lebenslang. Ein Gespräch kann Kinder erleichtern,
ein aufmerksames Wort macht aufmerksam, ein unbedachtes Wort kann kränken,
übersehen werden kann bedrücken, eine aufmunternde
Bemerkung Hoffnung machen, eine freundliche Geste anspornen.
Das Kind durch ein gutes Wort zum Lernen zu ermuntern, heißt nicht
einfach „loben“, sondern „anerkennen“ im Sinne
von „erkennen“: genau hinsehen, was es gut macht: „Da
brachtest du einen originellen Einfall.“ - „Den Lösungsweg
hast du geschickt gefunden.“ – „Diese Seite hast du
schön geschrieben, mir gefällt der persönliche Schwung
in deiner Schrift.“ – „Den Aufsatz habe ich gern gelesen;
er ist spannend und fantasievoll.“ – „Die Zeichnung
gefällt mir gut, die möchte ich in mein Zimmer hängen.“
– „Das Frühstück, das du uns heute gerichtet hast,
hat mir gut geschmeckt.“ – „Ihr habt heute im Klassengespräch
gut nachgedacht.“ – „So gut wie du möchte ich auch
mit dem Computer umgehen können.“
Ein aufrichtendes Wort weckt Lern-Energie und kann lange nachwirken.
In meiner psychotherapeutischen Arbeit dachte ich manchmal: „Es
wäre schön, die Lehrerin könnte erfahren, wie stützend
ein gutes Wort diesen Menschen über Jahre begleitet hat. Auch das
kritische Wort ist hilfreich, wenn das Kind dabei nicht entwertet
wird. Bei hilfreicher Kritik spüren die Schülerinnen
und Schüler: die Eltern nehmen mich ernst, der Lehrerin liegt an
mir; die wollen mir beim Lernen helfen. Kritik soll nicht bewerten,
sondern informieren, den Weg aufzeigen.
Mehr leisten in einem Klima der Anerkennung – „Gesehen
werden“
Eine die Kinder aufrichtende Beziehung ist nicht nur menschlich
wertvoll. Schüler lernen erfolgreicher in einem Familienklima
der Anerkennung und einer Unterrichtsatmosphäre des Akzeptiert-Werdens.
Eine psychologische Untersuchung zum Lernklima sollte klären: Wie
erfolgreich arbeiten Schüler, wenn sie für ihre Arbeit anerkannt
werden?, Wie gut lernen sie, wenn man sie tadelt?; und was geschieht,
wenn wir sie nicht beachten? Nach einer Woche ungleicher Behandlung
nach Probearbeiten – Anerkennung, Tadel, Übersehen-werden –
unterschied sich die Leistung der unterschiedlich behandelten Schüler
eindrucksvoll von der Ausgangsleistung.
Die Gruppe von Kindern, die nach einem Test für ihre Lernleistung
anerkannt wurde – anerkannt für das, was sie tatsächlich
gut gemacht hat - , erzielte bessere Lernfortschritte als die zweite Versuchsgruppe:
Diese wurde wegen ihrer Testergebnis getadelt für das, was
sie tatsächlich nicht zufriedenstellend löste. Diese auf ihren
Misserfolg hingewiesenen Schüler zeigten einen geringeren
Lern-Erfolg als jene, die durch Anerkennung ermutigt wurden.
Am schlechtesten schnitten die Schüler der dritten Gruppe ab. Sie
wurden weder akzeptiert noch gerügt, sondern ignoriert.
Die Leistungen der nicht beachteten Schüler sanken und verblieben
auf niedrigem Niveau. Der Lernerfolg der getadelten Gruppe stieg
zunächst an. Bei wiederholtem Tadel fiel er jedoch weit unter die
Ergebnisse der für ihre Leistung anerkannten Schüler.
– Demnach verschafft ein Familien- und Unterrichtsklima der Anerkennung
nicht nur eine freundliche Atmosphäre, sondern bewirkt gute Leistungen.
Es beschert auch Lehrerinnen und Lehrern den Erfolg ihres Unterrichts,
über den sie sich freuen können. Der Leistungserfolg hält
das Interesse der Kinder wach, das wiederum hebt die Leistungsfähigkeit.
Fragen: Wann habe ich meinem Kind zuletzt ein aufmerksames Wort geschenkt?
Welcher Schüler hörte heute Vormittag ein zustimmendes Wort
von mir? An welche Klasse richtete ich als Lehrerin eine akzeptierende
Bemerkung? Mit welcher Anrede nahm ich als Mutter mein Kind persönlich
wahr? Wann habe ich das Mädchen, das sich schwer tut, zum letzten
Mal ermuntert? – Diese Achtsamkeit verändert das Familienklima
und das Klassenklima: Wenn wir den Kindern und Jugendlichen nicht mit
Fehlerblick begegnen, sondern aufrichtend, mit dem Blick auf das Gelungene.
Sich als Eltern für das Lernen der Kinder interessieren
Um Interesse zu entwickeln, brauchen Schüler interessierte Eltern.
Kinder sollten erleben, welche Interessen die Eltern haben und womöglich
an deren Interessen teilhaben. Zum andern sollten sich Eltern für
das interessieren, was Kinder in der Schule lernen. Nicht „Ausfragen“:
„Was habt ihr heute im Unterricht durchgenommen?“, sondern
wachsam sein, ob sie mit den Kindern ins Gespräch über neu Gelerntes
kommen: „Über Vulkane habt ihr gelernt, das interessiert mich,
wie ist das denn, dass da ein Berg Feuer ausspuckt...“ Oder: „Das
hab ich längst vergessen, wie das mit den x-Gleichungen geht, zeig
mir doch mal...“ Oder: „Mahatma Gandhi habt ihr durchgenommen?
Von dem kann ich dir etwas erzählen...“ Oder: „Ihr habt
einen Unterrichtsgang zur Feuerwehr gemacht?...Ich war da noch nie.“
Es verstärkt das Interesse der Kinder, wenn sie Eltern haben, die
nicht nur nach Zensuren fragen, sondern Anteil an dem, was Kinder lernen.
Das Ergebnis einer Studie (PISA) zeigt allerdings: 60% der 15-Jährigen
meinen, was sie in der Schule lernen, sei ihren Eltern gleichgültig.
Das ist ungünstig für die Interessen-Entwicklung. Eltern könnten
mit den Jugendlichen „Fachgespräche“ führen, in
denen diese mehr wissen als die Mütter und Väter. Sie erleben
dadurch ihre wachsende Kompetenz und die Zuwendung der Eltern.
Es ist interesse-tötend für Jugendliche, das Gelernte nicht
praktisch anwenden zu können: immer nur für die nächste
Probe zu lernen, um es dann zu vergessen. Beim Miteinander-Reden über
das neue Wissen, können Kinder ihren Wissenszuwachs erproben. Und:
Dieser Austausch verbessert die Beziehung. Da kann auch die Mutter erzählen,
was sie arbeitet, was sie Interessantes gelesen hat. Und der Vater könnte
von einem interessanten Aspekt seiner Arbeit berichten.
Eltern und Lehrer sollten aber auch gegenüber persönlichen
Interessen der Kinder wachsam sein: sei es Bilder sammeln, Stars verehren
oder Musik machen, Fantasiegeschichten ausdenken oder Computerprobleme
lösen. Auch wenn uns Erwachsenen solch vorübergehende Interessen
unbedeutend erscheinen, sollten wir persönliche Leidenschaften nicht
abwerten: „Wäre gescheiter, du würdest was Vernünftiges
lesen...“ – „Immer rennst du zum Fußballspielen,
statt dich um Mathematik zu kümmern...“ Wir müssen Vorlieben
nicht gut heißen, aber wir können sie akzeptieren als das,
was jetzt den Jugendlichen bedeutsam erscheint. Wenn wir das
abwerten, fühlt sich das Kind als Person abgewertet –
und das ist für die Lern-Entwicklung ungünstig.
Was habe ich jetzt dazu gelernt? – Statt „Was haben
wir durchgenommen?“
Um das Interesse zu erhalten, ist es wichtig, den Lernfortschritt bewusst
zu machen. Ich habe mich als Lehrer täglich am Ende des Schulvormittags
mit den Schülern im Kreis zusammen gesetzt – oder zum Schlusslied
zusammen gestellt – und mit ihnen gemeinsam überlegt: Was findest
du vom heutigen Schulvormittag merkenswert? Wovon kannst du sagen: „Das
habe ich noch nie in meinem Leben gehört, das möchte ich mir
merken? Oder: Kannst du jetzt etwas, das heute früh um 8
Uhr noch nicht konntest? – Des öfteren gab ich freiwillige
Hausaufgaben der Art: „Erzähl deinen Eltern oder Geschwistern,
wie es dazu kam, dass sich aus dem Wolf der Haushund entwickelte, und
was unsere Hunde heute noch mit den Wildtieren der Vorzeit gemein haben.“
– Oder ich empfahl den Schülern: Ihr sagt, die Geschichte,
die wir heute gelesen haben, gefiel euch besonders gut. Könntest
du sie du zu Hause weiter erzählen? Oder sie der Familie vorlesen?
Dieser aktive Umgang mit dem Wissen verstärkt das Interesse
und sichert den Lernerfolg. Interesse entwickelt sich vor allem
-
an Dingen und Vorgängen, die einem wichtig sind, müssen
wir Kindern das Neue von der interessanten Seite her darstellen
-
Interesse erwacht an Themen, die einem persönlich
etwas bedeuten. Deshalb sollten wir alles tun, um den Schülern
einen persönlichen Bezug zur Sache zu ermöglichen.
-
Interesse entsteht durch Menschen, zu denen man eine gute
Beziehung hat: Eltern, Lehrer, Freunde, Vorbilder, durch das Lebensumfeld,
das Kinder vorfinden.
-
Und Interesse hängt auch davon ab, welche Begabungen ein Kind
mitbringt.
Interesse für das, was Kinder lernen, was Kinder und Jugendliche
bewegt, zeigt ich auch darin, dass Eltern, Lehrerinnen und Lehrer ihnen
zuhören, nicht nur gut meinend auf sie einreden, sie belehren, sondern
einfach zuhören. – Eltern, Lehrerinnen und Lehrer neigen dazu,
Kinder eines Besseren belehren, statt sie ausreden zu lassen, sich dafür
zu interessieren, was das Kind denkt, was es ängstigt und
freut; Anteil zu nehmen an dem, was ihm wichtig erscheint. Erwachsene,
die dem Kind zuhören, statt es gleich lenken zu wollen,
können ihm besser helfen, auch dabei, sein Interesse wach halten.
Die Kunst des Zuhörens schafft in Familie und Schule ein Lernklima,
in dem sich Interesse entwickeln kann – auch über das aneinander
interessiert sein.
Lesen
Bitte lesen Sie in den Leitgedanken Nummer 1 – 4, da haben Sie
einen ersten Überblick über Einsichten, die für das interessierte
Lernen wichtig sind.
1. Wie Schüler lieber lernen – Wissbegierde ist
eine Grundlage erfolgreichen Unterrichts
Kinder lernen bereitwillig und leisten mehr, wenn sie
-
mit Freude lernen und mit ihrer Arbeit zufrieden sein können,
-
wenn sie aktiv lernen dürfen: selbst-tätig und
handelnd,
-
wenn sie eigenständig und selbst-bestimmt arbeiten
können,
-
das Gelernte unmittelbar anwenden dürfen,
-
wenn das zu Lernende ihr Interesse weckt und sie das Lernen
als sinnvoll erleben können,
-
wenn sie sich von Eltern und Lehrern anerkannt fühlen,
-
ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gestützt
wird,
-
wenn sie zu Lehrerinnen und Lehrern eine halt-gebende Beziehung
finden,
-
mit den Mitschülern zusammenarbeiten und ihnen helfen
dürfen,
-
etwas tun können, was von anderen gebraucht und geschätzt
wird,
-
wenn sie in einer angstfreien und ermutigenden Lernsituation
lernen können und
-
durch Lernerfolg ihre Hoffnung auf Erfolg gestärkt
wird,
-
wenn Eltern und Lehrer positive Erwartungen in sie setzen,
aber sie nicht überfordern,
-
wenn Kinder Kritik als hilfreich erleben; sie merken, dass
man sich um sie kümmert.
2. Die Lernfreude unterstützen – Freude am Lernen
ist nicht Nebensache: Weiter lernen wollen
Lernbereitschaft ist eine Voraussetzung des Lernerfolgs. Kinder, die
Lernbereitschaft entwickeln, arbeiten ausdauernder und leisten mehr. Lernerfolg
beflügelt die Schüler, Misserfolg bedrückt und macht lern-unlustig.
Es gehört zu den Aufgaben von Familie und Schule, allen Kindern Erfolg
zu ermöglichen. Zu den größten Lernhindernissen zählen
Angst und ausschließlicher Zwang. – Was in der Schule „durchgenommen”
wurde, ist zweitrangig gegenüber der Frage: Wächst in den Kindern
durch den Unterricht die Motivation zum Weiterlernen? Erwacht ihr
Interesse, etwas zu lernen? Tragen wir als Eltern zur Interessen-Entwicklung
bei?
3. Eltern können dem Leistungswillen wecken: durch interessierte
Anteilnahme und Anregung
Mütter und Väter sollten sich interessieren für
das, was Kinder im Unterricht lernen; nicht ausfragend und kontrollierend,
sondern anteilnehmend: durch aufmerksames Begleiten der schulischen Arbeit,
durch das ermutigende Wort, das Wahrnehmen des Lernfortschritts und das
Erleben-Lassen, dass die Kinder vorangekommen sind; durch Miteinander-Reden
über Gelerntes, durch Hilfe, wenn sich das Kind hilflos fühlt,
durch Akzeptieren außerschulischer Aktivitäten und durch Begrenzen
dessen, was passiv macht, zum Beispiel unmäßiges Fernsehen.
Ein freundlicher Kontakt zu Lehrerinnen und Lehrern erhöht das Interesse.
4. Kinder und Jugendliche brauchen ein aufrichtendes Wort:
Ermutigung stärkt den Lernwillen
Wenn Kinder für ihre Leistung anerkannt werden, steigt das Lerninteresse
und die Lernfreude. Bei fortwährendem Tadel hingegen – auch
dem durch schlechte Noten – sinkt die Lernbereitschaft. Besonders
gering ist der Lernwille, wenn Kinder und Jugendliche nicht beachtet werden.
Ermutigung führt zu Selbstvertrauen; das ermöglicht
den Schülern, zielstrebig zu arbeiten. Eltern und Lehrer sollten
mehr anerkennen statt tadeln, das Geglückte sehen und bestätigen.
Die Ängstlichen und Schwächeren brauchen das ermunternde Wort
besonders. Bei Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die Mut machen, können
Kinder besser lernen und mehr leisten.
Katjas Angst vor dem Aufgerufen-Werden – Angst stört
die Entwicklung des Interesses
Von der Sache abgelenkt, in ihrem Interesse blockiert,
werden Kinder und Jugendliche, wenn sie Angst haben. Schulangst ist ein
Interesse-Töter; denn durch Angst wird die zu lernende Sache negativ
getönt. Das mit Angst besetzte möchten Schüler vermeiden.
Außerdem lenkt Angst vom Lerninhalt ab. - Katja fürchtete sich
davor, während des Unterrichts vom Lehrer plötzlich aufgerufen
zu werden; Angst blockierte ihr Denken. Sie sagt: „Es geht mir wie
dem Kaninchen vor der Schlange; ich bin wie gelähmt, wenn ich vor
der ganzen Klasse etwas sagen soll. Auch wenn ich gut gelernt habe, ist
das, was ich konnte, wie verflogen. Ich stehe beschämt da, fange
an zu stottern und fühle mich hilflos.“ Ich frage Katja: „Könntest
du deine Furcht vor dem Aufgerufen-Werden dem Lehrer mitteilen?“
- „Das bringt ja doch nichts“, meint sie, „der Lehrer
muss schließlich Noten machen; er kann mich nicht bevorzugen, wenn
ich mir wünsche, nicht aufgerufen zu werden.“ – Die Schülerin
ist bereits Opfer der Normalität des Abfragens. Sie stellt den ängstigenden
Druck, vom Lehrer ausgefragt zu werden nicht mehr in Frage. Ich ermuntere
sie: „Wenn du zum Lehrer hingingst, wüsste der mehr von dir.
In meiner Gruppenarbeit mit Lehrern sehe ich, wie ernst sie nehmen, was
ihnen Jugendliche mitteilen. Nur wenn Lehrer eure Schülersicht
kennen, wird es ihnen möglich, etwas zu verändern.“
Katja sprach mit Herrn A; der hörte sich den Kummer an.
Es tat ihm leid, die Jugendliche zu ängstigen. In sein Mitleid mischte
sich persönliches Erleben aus eigener Schulzeit. Er sah
eine Schülerin von nah, die er von fern bekämpfte, ohne das
zu wollen. Der Lehrer hatte Mitleid. Aber ist Mitleid angebracht, wenn
ein Mädchen nur Angst hat, aufgerufen zu werden? –
Für den Philosophen Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame
Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen
Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Diesen Widerwillen, eine
Schülerin leiden zu sehen, spürte der Lehrer angesichts Katjas
Kummer. „Aber woher die mündlichen Noten nehmen?“ Herr
A., selbst unzufrieden mit dem bedrängenden Ausfragen, wollte Katja
nur noch aufrufen, wenn sie sich meldete.
Er dachte auch mit der Klasse darüber nach, das Problem der mündlichen
Note spannungsfreier zu lösen: Die Jugendlichen wollten sich künftig
auf mündliche Kurzprüfungen vorbereiten, sich freiwillig
melden, eigene Vorschläge bringen, wie sie dem Lehrer besondere Fähigkeiten
zeigen konnten. Der Unterricht sollte nicht mehr ständig durchsetzt
werden mit ängstigendem Abfragen.
Katja wurde durch den verständnisvollen Lehrer von ihrer Abfragefurcht
befreit. Sie erhielt gleichzeitig Hilfe zur Selbsthilfe, mit der Angst
besser zurecht zu kommen. Ihre Energie konnte sie jetzt für das Lernen
fruchtbar machen. Die Aufmerksamkeit wurde nicht durch Angst aufgezehrt.
Auch die anderen Jugendlichen arbeiteten lebhafter mit. Der Lehrer fühlte
sich befreit, weil er Unterricht und Prüfung trennte. So konnte er
sich ganz auf den Lernvorgang konzentrieren, auf die Sache
und die Schüler.
Ich selbst habe so lange ich Lehrer war kein Kind aufgerufen, das sich
nicht meldete, oder einen Studenten „drangenommen“, der nicht
von sich aus etwas sagen wollte. Es hätte mir leid getan, einen Menschen
in eine peinliche Situation zu bringen. Wie wäre das für Sie,
wenn ich Sie während des Vortrags aufrufen würde ohne dass Sie
sich melden? Würde das nicht manche von Ihnen ängstigen? Und
fänden Sie das nicht taktlos von mir? Gar wenn ich so einen befremdlichen
Satz sagte, wie: „Wiederholen Sie, was ich gesagt habe!“ Weshalb
gilt eine ängstigende Situation wie die des „Aufrufens“
in vielen Klassenzimmern als selbstverständlich? Auch deshalb, weil
sich die Erwachsenen zu wenig in die eigene Kindheit und in ihre Kinder
einfühlen, und daher nicht achtsam sein zu können.
Wie Katjas Beispiel zeigt, muss das Furcht erregende Abfragen, Ausfragen,
Vorrechnen an der Tafel, plötzliches „Drankommen“ nicht
sein. Viele Schüler, Eltern – und selbst manche Lehrer meinen
irrtümlich, es sei durch die Schulordnung vorgeschrieben. Vorgeschrieben
ist jedoch nur, dass zur Leistungsbeurteilung eine bestimmte Anzahl „mündlicher
Leistungsnachweise“ zu erbringen sind. Wie Lehrerinnen und Lehrer
zu diesen Leistungsnachweisen kommen, liegt in ihrer pädagogischen
Verantwortung: Sie können Schüler Unterrichtsbeiträge vorbereiten,
Kurzreferate halten lassen, spezielle Kenntnisse bewerten, freiwillige
Leistungen einbeziehen, Berichte über häusliche Arbeiten entgegen
nehmen – zum Beispiel aus Quellen wie dem Internet, sie können
eigene Erfahrungsberichte vortragen lassen. Aus lernpsychologischen Gründen
sollten Lehrerinnen und Lehrer vermeiden, Schüler mit überraschenden
mündlichen oder schriftlichen Kurzprüfungen zu erschrecken.
Denn diese lernen mehr, wenn sie sich sorgfältig vorbereiten können
und keine Angst haben müssen. Denn Angst blockiert das Denken, wie
viele Menschen an sich selbst erfahren können.
Partnergespräch: Anregung, sich selbst wahrzunehmen
Ich möchte Sie durch die Beispiele ermuntern, sich Ihrer eigenen
Schulzeit zu erinnern und Ihre persönlichen Berührungspunkte
zu finden. Was Sie an Kindheitsprägungen erfuhren, wirkt sich daraus
aus, wie Sie als Eltern, Lehrerinnen und Lehrer handeln. Wenn Sie über
Ihr Schüler-Sein nachdenken, lassen Sie sich auf einen Erinnerungsprozess
ein, den ein französischer Schulreformer – Célestin
Freinet – so ausdrückte: „Mein einziges Talent als Pädagoge
besteht darin, dass ich mich meiner eigenen Kindheit erinnere. Ich fühle
und begreife als Kind die Kinder, die ich erziehe.“
Wenn Sie sich auf diese Selbstwahrnehmung einlassen, geht Ihnen nicht
der hartherzige Satz über die Lippen: „Uns hat es auch nicht
geschadet.“ Nachdenken über eigene Kindheitserfahrungen spüren
wir, ob und wie es uns geschadet oder gestärkt hat. Die Kraft der
Erinnerung kann uns bewegen, Gedankenlosigkeit gegenüber Kindern
zu durchbrechen.
-
Welche Schulerfahrungen erinnere ich im Hinblick auf mein
Lerninteresse? Wann ging ich gern ur Schule, wann nicht? Wie wirkten
sich Lehrer und Unterricht und Lehrer auf meinen Lernwillen aus? Was
machte mir Angst? Was ermutigte mich?
-
Welche Lehrerworte haben mich als Schülerin aufgerichtet?
Wie hat eine akzeptierende Bemerkung auf mich gewirkt, auf meine Lernmotivation?
Erinnere ich klein machende Lehrerworte?
-
Wie oft geht mir als Mutter, Vater, Lehrerin und Lehrer ein anerkennendes
Wort über die Lippen? Nicht nur ein Lob, das auch hilfreich ist,
sondern Anerkennung, das bedeutet: etwas erkennen, genau
hinsehen, aufmerksam wahrnehmen?
-
Was beobachte ich an meinen Kindern: Freuen sie sich auf den nächsten
Schultag? Erzählen sie interessiert von dem, was sie gelernt
haben? Ich interessiere ich mich für sie oder nur über das,
was sie in der Schule „durchgenommen haben“ und für
die Noten? Fühlt sich mein Kind von der Lehrerin persönlich
akzeptiert?
-
Kann ich Jugendlichen zuhören? „Ganz Ohr sein“
für das, was sie bewegt oder wie sie eine Sache sehen?
Über solche Fragen sollten auch Eltern und Lehrer miteinander,
nicht gegeneinander reden, oft auch zusammen mit den Schülerinnen
und Schülern.
Überfordernde Erwartungen - Misserfolg deprimiert und führt
zu Desinteresse
Lernerfolg ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass
Kinder interessiert werden. Es deprimiert Jugendliche, wenn sie Erwartungen
von Eltern und Schule nicht erfüllen können und dafür
noch entwertet werden: durch schlechte Noten. Das zeigt Heinrichs Mathematik-Trauma.
Er erzählt, wie er unter der Mathematik-Fünf litt, denn er war
auf die Fünf abonniert. Schul-lebenslang zog er die schlechte Note
hinter sich her, „wie ein Sträfling die schwere Kugel an seinen
Füßen“. Interesse für Mathematik entstand dabei
nicht, nur Angst und Unlust; er schreibt:
Ich war vergeblich zu versuchen verpflichtet, das spröde Gebälk
algebraischer Brücken zu überklettern; und immer schleppte ich
die Fünf hinter mit her. Der Mathematiklehrer rief meinen Namen im
Zusammenhang mit irgend einer Frage, auf die ich nie Antwort wusste, wie
sie auch heißen mochte... Nachdem ich hilflos zu Ende gestammelt
hatte, trat er auf mich zu, ganz langsam unter dem Gekicher der Klasse,
und knuffte meinen unzählige Male gemarterten Schädel mit brutaler
Gutmütigkeit, wobei er mehrmals murmelte: „Besenbinder du,
Besenbinder...“ Es war eine Zeremonie, vor der ich zitterte, meine
ganze Schulzeit lang. Um so mehr, da meine Kenntnisse mit den steigenden
Anforderungen nicht nur nicht zu wachsen, sondern abzunehmen schienen...
Es war hoffnungslos, vollkommen hoffnungslos, mir Mathematik beibringen
zu wollen. Und ich schleppte die Fünf all die Jahre hinter mir her,
wie ein Sträfling die schwere Kugel an seinen Füßen. Heinrich.(Heinrich
Böll)
Zwar waren die äußeren Schulumstände beim späteren
Nobelpreisträger anders, die innere Not trifft Jugendliche
heute genauso. Ihr Schädel wird nicht mehr geknufft; aber es gibt
den Eintrag ins Notenbuch, das Kind wird bloß gestellt, mit einer
geringschätzigen Bemerkung entmutigt, durch die gerechte Fünf
entwertet. Die Folge ist: Leistungen wachsen unter unpädagogischen
Bedingungen nicht, sie nehmen ab. Der Lehrer meint, Mathematik zu lehren;
aber er lehrt den Jungen Misserfolg, der beschädigt sein Interesse.
Diese Entmutigung ist in vielen Ländern dem Lehrer ministeriell vorgeschrieben,
nicht allerdings das achtungslose Verhalten. Es ist ein tragischer Satz,
den Heinrich Böll zu seinem Versagen schrieb: „Es war hoffnungslos,
vollkommen hoffnungslos, mir Mathematik beizubringen.“ Er gab sich
die Schuld; er durfte nicht merken, dass die Schule es war, die
ihn ins Versagen stürzte.
Den Unterricht differenzieren – Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit
akzeptieren
Heinrichs Verzweiflung wäre so leicht aus der Welt zu
schaffen: Man lässt jedes Kind auf der Leistungsstufe lernen, auf
der es seinen Anlagen nach Erfolg haben kann. Der Lehrer stellt an unterschiedliche
Kinder unterschiedliche Anforderungen in einem differenzierenden Unterricht.
Durch abgestufte Leistungsforderungen kann jedes Kind Lernerfolg
erfahren; und Lernerfolg ist die wichtigste Voraussetzung dafür,
dass das Lern-Interesse erhalten bleibt. Im differenzierenden Unterricht
wird nicht der lernpsychologische Widersinn praktiziert: Ganz unterschiedliche
Kinder müssen zur gleichen Zeit, im gleichen Tempo, mit der gleichen
Methode, über die gleiche Sache die gleichen Lernanforderungen bewältigen.
Keine Mutter käme auf die Idee, so unvernünftig zu verfahren,
wenn ihr Kind laufen lernt: als müssten gleichaltrige Kinder zur
gleichen Zeit Gehen lernen. Die Mutter folgt dem Tempo, das ihr Kind vorgibt.
Wenn es wankt, stützt sie es, wenn es hinfällt, hilft sie ihm
auf, sie freut sich mit ihm über die ersten Schritte. Keiner Mutter
fiele ein, das Kind bei seinen Gehversuchen zu zensieren; das Kind ist
gestürzt, hat sich vielleicht weh getan und weint, die Mutter: „Du
bist hingefallen, Note 5!“ Aber durch ein inhumanes Ausleseprinzip
bleibt die Schule für viele Schülerinnen und Schüler eine
angst-machende Richtstätte, statt ein mut-machender Lern-Ort. Und
manche, schreibt Heinrich Böll, „schleppen all die Jahre die
Fünf hinter sich her, wie der Sträfling die schwere Kugel an
seinen Füßen“.
Die PISA-Studie zeigt: In Ländern, in denen die Kinder bis zum
zehnten Schuljahr nicht mit Ziffern zensiert werden, sondern ausführliche
Lernberichte erhalten, sind die Schüler leistungstüchtiger.
Weshalb? Weil sie als ganze Person wahrgenommen werden. Weil sie –
nicht nur am Zeugnistag – genau informiert werden über ihre
Stärken. Weil sie Wege aufgezeigt bekommen, wie sie ihre Schwächen
überwinden können. Weil sie nicht an anderen gemessen werden,
sondern ihren individuellen Lernfortschritt erleben. Das muss
sie tüchtiger machen.
Beschädigtes Interesse durch seelisch verletzende Worte
von Eltern und Lehrern
Ich brachte Ihnen Beispiele dafür, wie hilfreich die gute Lehrer-Schüler-Beziehung
für die Entwicklung des Lerninteresses ist:
-
Wenn der Lehrer ein gutes Wort für den Jugendlichen hat,
-
wenn die Lehrerin das Kind als ganze Person wahrnimmt,
nicht nur als Schüler,
-
wenn sich Lehrer bemühen, den Schülern Erfolg
zu ermöglichen; denn Erfolg ist der beste Garant für weiteren
Erfolg,
-
wenn Lehrer die für die Kinder interessante Seite des Lernstoffs
hervor kehren,
-
wenn sie das Sachwissen verstehbar und durchschaubar machen,
-
wenn Eltern und Lehrer die Ängste der Kinder ernst nehmen und
alles, sie abzubauen,
-
wenn sie den Schülern Mut zu machen.
Es ist zwar zugespitzt ausgedrückt, wenn Goethe meint: „Man
lernt immer nur von dem, den man liebt.“ Aber für Kinder und
Jugendliche ist es entscheidend, in einer freundlichen, Sicherheit gebenden
Beziehung lernen zu können. Umgekehrt kann es die Bereitwilligkeit
zum Lernen stören, wenn Kinder in einer unnahbaren Lehrer-Schüler-Beziehung
lernen sollen, oder gar, wenn sie seelisch verletzt werden: durch geringschätzige
Worte.
Eine Schülerin konnte die Entwertung durch einen Lehrer jahrelang
nicht überwinden. Als Studentin berichtet sie ein Erlebnis, das ihr
Interesse an einem so schönen Lernbereich wie „Schwimmen“
schwer schädigte und sie krank machte. In ihrer Not hat sie dann
„krank gemacht“ und blieb dem Unterricht fern. Der
Sportlehrer hatte sie ausgelacht und vor der Klasse bloß gestellt;
da verlor sie allen Mut. Sie erzählt:
Das ist mir in letzter Zeit häufig wieder eingefallen. Ich konnte
damals noch nicht schwimmen. Der Sportlehrer, der uns das Schwimmen beibrachte,
hatte offenbar nichts für mich übrig. Er holte mich vor der
ganzen Klasse aus dem Wasser und ließ mich am Beckenrand zur Belustigung
der anderen Trockenübungen machen. Dabei hat er sich mit ironischen
Bemerkungen über mich amüsiert. Es war mir vor den andern furchtbar
peinlich. Ich habe mich so geschämt, dass ich dann vor jedem Schwimmunterricht
wirklich krank wurde – oder dann einfach krank gemacht
habe. Das hatte für mich zur Folge, dass ich nicht schwimmen konnte.
Ich habe es ganz spät erst gelernt; und ich hatte bis vor kurzem
noch immer Angst vor dem Wasser.
Wie dieser Schülerin das Interesse am Schwimmen ausgetrieben wurde,
weil ein Lehrer sie demütigte, kann es in Mathematik oder Latein
geschehen. „Ein Kind auszulachen, ist ein Verbrechen“, schrieb
der große Arzt und Pädagoge Janusz Korczak. Eltern und Lehrer,
auch Mitschüler finden es oft nicht empörend, wenn in diesen
Einzelfällen die Ehre der Kinder verletzt wird; sie nehmen die Kränkung
meist ohne Widerspruch hin. „Gute Worte“ richten Kinder auf
und motivieren sie zum Lernen. Verletzende Worte demütigen sie und
verderben ihnen die Lernfreude – auch in der Familie: „Wie
dumm stellst du dich wieder an.“ „Aus dir wird wohl nie etwas
Gescheites.“ – Oder in der Schule: „Du gehörst
eigentlich nicht aufs Gymnasium.“ „Bei dieser Leistung sehe
ich schwarz für deine Zukunft.“ – Erniedrigende Worte
können Kinder treffen wie Gift.
Lesen in den Leitgedanken
Bitte lesen Sie in den Leitgedanken Nummer 5 – 8
5. Ohne Angst lernen - Taktvolles Erzieherverhalten erhöht
das Lern-Interesse
Übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert,
anpassungsbereit und schweigsam. Eltern und Lehrer sollten den Kindern
eine entspannte Lernsituation ermöglichen. Dazu gehört
pädagogischer Takt: ein Kind nie bloßstellen, Blamagesituationen
vermeiden, es nicht unverhofft aufrufen, niemals auslachen, missglückte
Arbeiten nicht vorlesen, den Schüler nicht in Situationen des Versagens
bringen, ihn nicht wegen persönlicher Schwächen herabsetzen,
Zensuren nicht öffentlich bekannt geben. Prüfungen können
so eingerichtet werden, dass die Angst vermindert wird: durch genaues
Mitteilen des zu prüfenden Wissens, durch Hilfen bei der Vorbereitung,
durch Mitwirken der Schüler beim Festlegen der Prüfungsinhalte...
Nicht Angst machen, sondern Angst nehmen und Mut machen.
6. Zu Lernerfolg verhelfen – Erreichbare Leistung
durch Differenzierung
Nichts spornt Kinder in ihrem Lernwillen mehr an, als eine geglückte
Leistung; diese stärkt das Selbstbewusstsein. Eltern, Lehrerinnen
und Lehrer sollten nicht ständig mit fragwürdigen Zensuren Leistung
messen, sondern den Kindern Leistung ermöglichen: durch
individuelle Anforderungen, die das Lernziel für das Kind
erreichbar machen. Nicht alle Kinder müssen das Gleiche lernen, sondern
jedes Kind leistet das ihm Mögliche. Am Ende jeder Unterrichtsstunde
sollten alle Schüler erkennen: „Ich habe etwas dazu gelernt.”
Das befriedigende Gefühl, etwas verstanden zu haben, regt zum Weiterlernen
an.
7. Positive Erwartungen von Eltern und Lehrern stimmen hoffnungsvoll
– Zuversicht wecken
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die zuversichtliche Erwartungen an Kinder
herantragen, erhöhen deren Leistungsfähigkeit. Bei negativer
Erwartung hingegen vermindert sich die Tüchtigkeit der Schüler.
Positive Vor-Urteile optimistischer Lehrer und Eltern unterstützen
in den Kindern eine hoffnungsvolle Stimmung; und mit Hoffnung auf Erfolg
lernen sie bereitwilliger. In schwierigen Lernsituationen braucht das
Kind nicht Bewertung – schon gar nicht Ziffernnoten, es braucht
nicht Tadel, sondern Hilfe, um Schwierigkeiten zu überwinden.
8. Selbst-Tätig-Sein und Einsicht in den Sinn des Lernens
– Das Gelernte praktisch anwenden
Wenn Kinder erfolgreich lernen sollen, müssen sie aktiv
sein. Das bedeutet eine Abkehr vom Wortunterricht. Durch eigenes Tun lernen
Kinder lieber, weil es ihrem Tätigkeitsdrang entgegenkommt. Handelnd
zu lernen ist wirksamer als Zuhören. Schüler wollen nicht
nur mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen lernen. Sie möchten ihre
eigene Aktivität erleben, selbstbestimmt arbeiten, für ihre
Arbeit verantwortlich sein. Dabei machen sie ermutigende Erfahrungen:
Anstrengung ermöglicht ihnen, die eigene Kraft zu erleben. Das Lernen
wird interessanter und motivierender, wenn die Schüler das Gelernte
in wirklichen Situationen anwenden können.
Eine Schule mit gutem PISA-Test – Reformpädagogisches
Projekt „Laborschule“
Ich möchte Sie unterstützen, pädagogisch zu argumentieren,
um die Schule mitgestalten zu können – zum Beispiel im Hinblick
auf die PISA-Diskussion. Bei dem mäßigen Abschneiden deutscher
Schulen ragt eine reformpädagogische Schule mit guten Leistungen
heraus: eine Schule ohne Noten, ohne frühe Auslese, ohne Sitzen-Bleiben,
ohne ständiges Prüfen. Diese Modellschule wurde als leistungsfeindlich
bezeichnet, weil Kinder ohne Zensuren lernen dürfen. Jetzt erwies
sie sich als leistungsstark: die Bielefelder Laborschule steht
an der Spitze.
Welche Besonderheiten hat die im Leistungstest gut bewertete
Schule? Die Lehrer legen Wert auf Zusammenarbeit, statt auf Konkurrenz;
sie pflegen ein partnerschaftliches Schulklima. Kinder werden
nicht aussortiert nach Hauptschülern, Realschülern und Gymnasiasten,
sondern gemeinsam unterrichtet. Vom ersten bis zehnten Schülerjahrgang
bleiben sie mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit in einer Klasse,
unterstützen sich, regen sich gegenseitig an. Diese Schüler
erreichten Spitzenwerte bei der Leseleistung, die an das Vorbild Finnland
heranreichen. Auch schwache Schüler zeigten ein ausreichendes
Wissen. Dass Jugendliche mit mangelhaften Leistungen vernachlässigt
werden, ist ein speziell deutsches Problem.
Die Schüler dieser pädagogisch ausgerichteten Schule
weisen nicht nur gute Leistungen auf, sondern auch Tugenden:
-
Sie sind zufriedener als andere gleichaltrige Jugendliche.
-
Sie zeigen eine demokratische Haltung, entwickeln ein ausgeprägtes
politisches Interesse.
-
Die Jugendlichen sind bereit, Verantwortung zu übernehmen und
sich sozial zu engagieren, sie haben hohe soziale Wertvorstellungen.
Woran liegt es, dass eine Schule Spitzenleistungen erreichte, die als
nicht leistungs-orientiert und als „Schmuseschule“ abgewertet
wird? Ihr Begründer, Hartmut von Hentig, wollte nicht gute Noten
und Best-Leistungen vorführen, sondern eine Schule, in der sich Schüler
vertieft mit dem Wissen auseinandersetzen, miteinander
lernen, verständigungsbereit und verantwortungsbewusst werden. Die
Laborschule versteht sich als „Haus des Lernens“. Was gehört
dazu?
Schule als „Haus des Lernens“: „Die Menschen
stärken, die Sachen klären“
-
In diesem „Haus des Lernens“ lernen die Schülerinnen
und Schüler bis zur 10.Klasse ohne Noten. Ihr Lernfortschritt
wird aufmerksam begleitet, sie werden durch Lernberichte genau informiert
über ihren Leistungsstand und beraten, wie sie weiter lernen
können.
-
Durch individualisierenden Unterricht in kleinen Klassen
von 15 – 20 Schülern kann jedes Kind auf seinem persönlichen
Leistungsniveau lernen, seinen Fähigkeiten entsprechend.
-
Kein strikter 45-Minuten-Takt schränkt das Lernen ein,
das ermöglicht den Lehrern, ganzheitlich zu unterrichten.
-
Ziel ist ein vertieftes Lernen; es wird nicht unendlich
viel „Stoff durchgenommen“ für die nächste Prüfung,
sondern mit weniger Lernstoff nachhaltig gelernt.
-
Die Reformschule ist eine Lernschule, keine Prüfschule
wie viele Gymnasien, in denen ständig abgefragt, ausgefragt,
getestet, geprüft wird. Sie führt die Schüler in Methoden
des Lernens ein. Kinder lernen, wie man lernt, wie man fragt,
wie man Wissen findet, wie man sich Erkenntnisse zu eigen
macht, wie man das Gelernte anwendet.
-
Die Schüler merken, dass es anstrengend ist, zu lernen;
aber dass das Gelernte selbstbewusst macht und man sich nicht an Zensuren,
sondern an der sichtbaren, geglückten Leistung freuen
kann.
-
Es wird in Projekten gelernt. Die Schüler bestimmen
mit, welchen Fragen sie innerhalb eines Themas nachgehen wollen. Sie
lernen fächerübergreifend, praxisbezogen.
-
In diesem „Haus des Lernens“ gibt es kein Sitzenbleiben:
hier werden Kinder nicht „sitzen gelassen“, sondern aufgefangen
und gehalten, im Gegensatz zu „normalen“ Schulen.
Da steht im Zwischenzeugnis von Marie: „Vorrücken gefährdet.“
Dem Mädchen ist der Doppelsinn seiner Äußerung nicht bewusst,
als es ängstlich zu der Zeugnisbemerkung sagt: „Ich bin gefährdet,
vielleicht muss ich sitzen bleiben.“ - „Ich bin gefährdet.“
Ein staatlicher Bildungsberater beschwichtigt und wendet ein: „Aber
das Zeugnis mit dem Vermerk 'gefährdet' ist doch nur ein Warnschuss.“
Ein Warnschuss: Erstaunlich, wie unbekümmert hier ein kriegerischer
Wortschatz benutzt wird. „Ein Warnschuss“: Sind wir denn im
Krieg, dass Kinder mit Schüssen gewarnt werden? Es scheint so: Lehrer
müssen mit gerechten schlechten Noten Kinder wie Marie gefährden.
Das müssen sie nicht in vielen Ländern, in denen Kinder keine
Noten kennen, und dabei leistungstüchtiger werden.
Partnergespräch: Die eigene Kindheit und Schulzeit erinnern
– Miteinander reden
Ich halte hier noch mal inne und lasse Ihnen eine Pause zum Nachdenken.
Sie können dann besser festhalten, was für Sie wichtig ist.
Mein Wunsch wäre, ich könnte Sie in Ihrer pädagogischen
Argumentation unterstützen. Sachkenntnis ist ein wichtiges Element,
wenn wir über Schule mitentscheiden wollen. Sie können zum Beispiel
überlegen:
-
Hegen Sie selbst Vorurteile gegen reformpädagogische Ideen,
von denen ich Ihnen am Beispiel der Bielefelder Laborschule berichtete,
die sie auch in Montessorischulen und anderen freien Schulen finden?
„Ohne Noten lernt man doch nichts“, „Der Stoff muss
eben durchgenommen werden“, „Frühe Auslese nach der
vierten Klasse ist richtig“, „Schüler sitzen bleiben
lassen ist einfach notwendig, wenn die nicht mitkommen“, „Schulangst
hat es immer gegeben“. Darüber nachzudenken, dass es den
Begriff „Schulangst“ überhaupt gibt: Höllenangst,
Dunkelangst, Flugangst, Prüfungsangst, Trennungsangst, Todesangst,
Existenzangst, Kriegsangst, Strafangst, Lebensangst, Verfolgungsangst,
Schulangst...
-
Kennen Sie eigene Schulerfahrungen zu Erfolg und Misserfolg? Hat
Sie die Schule neugierig gemacht? Oder haben Sie auch Erfahrungen,
durch die Ihnen die Neugierde ausgetrieben wurde? Erinnern Sie aus
Ihrer Schulzeit, wie es war, wenn Sie mit Interesse lernen konnten?
Und wie ist das bei Ihren Kindern?
-
Machten Sie Erfahrungen mit seelisch verletzendem Lehrerverhalten?
Und mit Lehrern, durch die Ihr Interesse geweckt wurde?
Bitte suchen Sie Ihre persönlichen Berührungspunkte
zu dem, was ich Ihnen vortrug.
Sie können das im Partnergespräch tun, wie es in pädagogisch
eher fortschrittlichen Schulen heißt, oder Sie können einfach
„schwätzen“, wie es häufig in der Regelschule genannt
wird.
Entwicklungsmöglichkeiten entdecken – Friedolin „bildet“
sich unter der Schulbank
Bei Kindern Interesse zu wecken bedeutet auch, persönliche Fähigkeiten
zu entdecken. Ein Lehrer berichtet: Ich ärgerte mich über Friedolin,
weil er oft gedanklich abwesend war. Ich dachte, mit dem ist ohnehin nicht
viel los, bis ich folgendes erlebte. Der Schüler war wieder einmal
„wo anders“, statt bei meiner grammatikalischen Erklärung.
Ich vermutete, er liest unter der Bank und steuerte ungehalten auf ihn
zu: „Was machst du da?”– „Nichts.”-„Zeig
mir das Buch, das du versteckt hast.”Er zog es beschämt hervor;
ich staunte nicht wenig, als ich auf den Buchdeckel blickte: Johann Wolfgang
Goethe: Faust, erster Teil. Als Deutschlehrer fand ich mich ganz schön
daneben. „Liest du das?” fragte ich. – „Ja, das interessiert
mich.”-„Wie kommst du dazu, Goethes Faust zu lesen?”–
Friedolin schüchtern: „Ich möchte mich bilden.“
Der Schüler tauchte unter, um der Grammatik zu entgehen und seinem
literarischen Interesse zu folgen. Der Lehrer sprach ihn auf sein Lese-Interesse
an und erfuhr: Friedolin las auch gern Gedichte und schrieb selbst
welche. Herr B. bat ihn, sie ihm zu zeigen. Erstaunt fand er die Gedichte
recht gut. Künftig ließ er den Schüler die Gedichte der
Klasse vortragen. Das änderte die Einstellung der Mitschüler
zu Friedolin, sie sahen ihn plötzlich in einem anderen Licht. Der
Lehrer sagte zu mir: „Mich hat das schon bewegt, wie wenig Ahnung
wir oft von dem haben, was die Kinder wirklich sind und was wir
in ihnen entdecken können.“
So ein Entdecker und Interessen-Wecker war Albert Camus Lehrer. Camus
dankte als erstem seinem Volksschullehrer, als ihm der Nobelpreis verliehen
wurde. Er schrieb: In Ihrer Klasse nährte die Schule einen Hunger,
der für das Kind noch wesentlicher war als für Erwachsene, der
Hunger nach Entdeckung. In anderen Klassen lehrte sie vieles, aber ein
wenig so, wie man Gänse mästet. Man setzte ihnen fix und fertige
Nahrung vor und bat sie, sie gefälligst zu schlucken. In Ihrer Klasse
fühlten die Kinder zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand
höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt
zu entdecken.“
Das ist es, was Schüler mit Respekt von Lehrern sagen, und das
ist es, was in ihnen das Interesse wach hält, wenn sie sagen: „Bei
dem lernt man was“, „Mit der kann man reden“, „Der
behandelt uns anständig“, „Die sorgt für eine gute
Ordnung“, „Der nimmt uns ernst“. In Camus Worten: „In
Ihrer Klasse fühlten die Kinder zum ersten Mal, dass sie existierten
und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie würdig,
die Welt zu entdecken.“ Wenn wir in Kindern Interesse entwickeln
wollen, müssen wir versuchen, sie in ihrer Einmaligkeit mit Sympathie
wahrzunehmen: mit der Fähigkeit, sich in Jugendliche einzufühlen
und einzudenken, Mut machend, zustimmend.
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