Prof. Dr. Kurt Singer
Vortrag am Dienstag, 13. Mai 2003 in Ansbach, 19.30 Uhr
Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken
e.V.
Gruppe Ansbach Stadt und Land
Zivilcourage wagen – Eine demokratische Tugend entdecken
Bürgermut im Alltag: Eingreifen statt Wegschauen
- Die eigene Meinung sagen –
Sozialen Mut lernen – Ohne Ungehorsam kein Fortschritt
Ich spreche zu Ihnen über Zivilcourage: über den sozialen Mut,
für Menschenwürde einzutreten. Wer sich für Humanität
im Alltag und für eine „bessere Welt“ einsetzt, braucht
Bürgermut. Aber wer kennt das nicht: sich hinter her zu ärgern,
weil im entscheidenden Augenblick der Mut zum Widerspruch fehlte? Weil
einem die richtigen Worte nicht einfielen? Weil man fürchtete, Offenheit
könne schaden? Weil man zögerte, einzugreifen? – Manche
Menschen würden sich gern einmischen: am Arbeitsplatz, auf der Straße,
in der Gemeinde, der Schule, in einer Partei oder Bürgerinitiative...
Es ängstigt jedoch, gegen den Strom zu schwimmen, deshalb schauen
sie lieber weg, schweigen, oder passen sich an; das macht sie unzufrieden
mit sich selbst.
Ich möchte Sie mit meinem Vortrag nicht belehren, ich würde
Sie gern berühren: an den Punkten, an denen Sie das Thema
bewegt, wann Sie gern mehr Mut hätten, wo Sie der Anpassung widerstehen
möchten. Fragen sind: Traue ich mir die eigene Meinung zu sagen,
auch wenn diese anderen missfällt? – Muss ich mir alles gefallen
lassen, weil ich abhängig bin? – Bleibe ich den moralischen
Grundwerten treu, von denen ich überzeugt bin? – Riskiere ich
in ängstigenden Situationen, helfend einzugreifen, statt wegzuschauen?
– Kann ich trotz meiner Autoritätsangst gegenüber Vorgesetzten
zu meiner Überzeugung stehen?
Großer Mut zum kleinen Widerstand – Sophie wagt Zivilcourage
Zivilcourage, den großen Mut zu kleinen Taten, wagte Sophie bereits
mit neun Jahren.
Ihre Eltern sahen Widerspruchsmut als Tugend an und unterstützten
das Mädchen im Nein-Sagen. Sophie ging mit ihrer Schwester Elisabeth
in die gleiche Klasse. Ihr Lehrer versetzte die Schüler willkürlich
auf bestimmte Plätze – und zwar den Leistungen entsprechend.
Dabei wurde Sophies Schwester Elisabeth ausgerechnet an ihrem Geburtstag
einen Platz heruntergestuft. Der Lehrer setzte das Mädchen zur Strafe
in die letzte Bank. Diese Demütigung empörte Sophie. Sie stand
auf, ging festen Schrittes zum Lehrer vor und protestierte: „Meine
Schwester Elisabeth hat heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!“
Sie fasste ihre Schwester entschlossen beim Arm und führte sie an
den alten Platz. Der Lehrer ließ es erstaunt geschehen. Das Mädchen
zeigte Zivilcourage.
-
Nein sagen zum Unrecht, auch wenn das Unrecht „von oben“
kommt.
-
Nicht schweigen, wenn ein anderer Mensch gedemütigt wird.
-
Mut zu Kritik finden.
-
Schwachen beistehen, wenn sie benachteiligt werden.
-
Eingreifen, wenn die Menschenwürde angetastet wird.
Wer Zivilcourage lernen will, kann sich durch Vorbilder bestärken
lassen. Aus dem Mädchen Sophie, das dem Lehrer mutig widersprach,
wurde die Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Sie riskierte ein Jahrzehnt
später ihr Leben im Aufruhr gegen Hitler. In einem Flugblatt der
Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“ schrieb sie: „Zerreißt
den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt.
Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“
– „Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen“:
das ist ein zwingender Beweggrund für sozialen Mut.
Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen
Inge Aicher-Scholl erzählte über ihre Schwester: „Für
Sophie war wichtig, auch im Kleinen zu helfen: Man darf nicht nur dagegen
sein, sondern muss etwas tun und an der Zementmauer der Unmöglichkeit
versuchen, kleine Möglichkeiten heraus zu schlagen.” Eine Stelle
aus dem Jakobus-Brief galt ihr als Maxime: „Seid Täter
des Wortes – nicht Hörer allein.”
Sophie war ein stilles, eher schüchternes Mädchen. Wie kann
sie zu dieser Tapferkeit? Sie wuchs in einem toleranten Elternhaus auf.
Die Meinung der Kinder wurde respektiert, auch wenn sie der elterlichen
widersprach. Der Vater ermutigte dazu, nicht kritiklos hinzunehmen, was
Erwachsene sagen. In der Familie wurde viel über Politik und Bücher
gesprochen. „Die Gedanken sind frei!“ hörte Sophie vom
Vater. Der verteidigte aufrecht seine kritische Meinung über die
Nazis. Deshalb verhaftete ihn die Polizei mehrmals. Als er vier Monate
eingesperrt wurde, stellte sich Sophie an Sommerabenden in die Nähe
des Gefängnisses und spielte ihrem Vater auf der Flöte das Lied,
das Symbol für beide war: „Die Gedanken sind frei.“
Mit zweiundzwanzig Jahren wurde Sophie hingerichtet. Sie hatte Flugblätter
gegen den nationalsozialistischen Terror verteilt. Nach ihrer Verhaftung
meinte sie, eine Gefängnisstrafe zu bekommen; aber der Gerichtshof
verkündete das Todesurteil. Wir müssen uns der Grausamkeit bewusst
werden: wie die Jugendliche den Hinrichtungsraum betritt, ihre Augen die
Tötungsmaschine sehen, die Vorrichtung für das riesige Messer,
das ihr Haupt abtrennen sollte, wie ihr Nacken nach unten gebeugt und
frei gemacht wird für das fallende Beil.
Den Bruch mit der Gleichgültigkeit wagen
Heute setzen wir nicht unser Leben aufs Spiel, wenn wir politisch-moralischen
Widerstand leisten, zum Beispiel gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
auf den Irak protestierten. Oder wenn wir gegen eine „Sicherheitspolitik“
demonstrieren, die durch militärische Rüstung die Welt unsicher
macht. Aber bestraft werden können wir dennoch. Eine Lehrerin
berührte es, wie bewegt ihre Schüler für den Frieden eintraten.
Der Schülersprecher wollte gar eine Demonstration organisieren. Als
er auf der Polizei des kleinen Ortes vorsprach, wies ihn ein Polizist
ab: „Demonstration? So was gibt’s bei uns nicht, zum Demonstrieren
kannst’ nach München fahr’n.“ Der Dreizehnjährige
versuchte es beim Bürgermeister; der war überrascht und wusste
nicht, wie so etwas geht. Aber die Ernsthaftigkeit des Schülers beeindruckte
ihn, er informierte sich und half. Die Lehrerin unterstützte ihre
Klasse, die Friedenskundgebung vorzubereiten. Sie wurde jedoch von der
Schulbehörde gewarnt: sie verstieße gegen das Gesetz, wenn
sie mit den Schülern demonstriere. Als Staatsdienerin müsse
sie Neutralität wahren. Sie setzte dagegen: „Nein, wenn es
um den Frieden geht, um die Menschenwürde und um die Zukunft der
Kinder, bin ich nicht neutral.“
Der Friedenszug wurde ein bewegendes Ereignis; in der Geschichte dieses
kleinen Ortes gab es noch nie eine Demonstration. Sogar die konservativen
Bürger sympathisierten mit den zweihundert Kindern und Jugendlichen,
die mit fantasiereichen Plakaten, Fahnen und Liedern durch den Ort zogen.
Die Schüler baten Bürgermeister und Lehrerin – sie war
die einzige Ungehorsame an der Schule –, eine Rede zu halten. Prompt
wurde die Lehrerin dienstlich ermahnt und mit einer Disziplinarstrafe
bedroht. - Angesichts solcher Einschüchterung fällt es manchen
schwer, den Mantel der Gleichgültigkeit zu zerreißen. Fallen
uns nicht leicht Gründe ein, den Widerspruch zu unterlassen?
Erich Fried: Gründe
Weil alles nicht hilft
Sie tun ja doch, was sie wollen
Weil ich mir nicht nochmals
die Finger verbrennen will
Weil man nur lachen wird:
Auf dich haben sie gewartet
Und warum immer ich?
Keiner wird es mir danken
Weil jedes Schlechte
vielleicht auch sein Gutes hat
Weil ich das lieber
Berufeneren überlasse
Weil man nie weiß
wie einem das schaden kann
Weil sich die Mühe nicht lohnt
weil sie alle das gar nicht wert sind
Immer ist es der „Bruch mit der Gleichgültigkeit“, den
wir wagen müssen: den Bruch mit der Gleichgültigkeit angesichts
einer gigantischen Zahl von Menschen-Vernichtungsmitteln, die für
weltweit drohende Kriege bereit stehen; angesichts kapitalistischer Globalisierung,
die Menschen in Not bringt; angesichts drohender Klima-Katastrophen, verseuchter
Flüsse und Meere, verpesteter Luft... Der Bruch mit der Gleichgültigkeit
aber auch angesichts einer gedemütigten Büroangestellten,
die ihr Chef vor den andern spöttisch herabsetzte, oder des hilflosen
Kindes, das vom Lehrer ausgelacht wird, oder zweier ausländischer
Frauen, die beschimpft werden.
Die Angst, allein zu stehen
Frau W. schildert den Konflikt zwischen der Furcht, sich einzumischen
und dem Wunsch, ihrer moralischen Empfindsamkeit zu folgen. Sie erzählt:
„Ich stand vor der Kasse des Einkaufsmarkts, vor mir warteten zwei
Türkinnen. Eine Kundin begann laut über ‚die Ausländer’
zu schimpfen: ‚Die Kanaken sollte man nach Hause schicken, sie nehmen
uns die Arbeit weg, belagern unsere Wohnungen, und überhaupt, wie
dreckig die sind...’ Ein Schwall entwertender Vorurteile brach sich
Bahn. Andere Kunden nickten beifällig oder schwiegen.
Ich war innerlich empört, mir taten die Türkinnen leid. Aber
die Angst, auch beschimpft zu werden, verschloss mir den Mund.
Ich fürchtete, allein gegen alle da zu stehen. Zudem erkannte
ich unter den Frauen Nachbarn; das ängstigte mich besonders. Ich
wollte es nicht mit Leuten verderben, mit denen ich täglich zu tun
habe. Aufgeregt zögerte ich, hörte mein Herz klopfen und spürte
meinen trockenen Mund. Da fasste ich doch Mut und redete zaghaft
dazwischen: ’Ich hab gute Erfahrungen mit Türken gemacht, das
sind Menschen wie wir; ich finde es unrecht, sie zu beleidigen.’
– Erstauntes Schweigen; zwei stimmten mir durch Kopfnicken zu. Ich
war froh, mich zu den Widerworten durchgerungen zu haben.“
Bedrohlich fand Frau W., dass sie sich von ihr näher stehenden
Menschen mit ihrer Haltung erkennen lassen musste; damit setzte sie ihre
Zugehörigkeit aufs Spiel: „Verscherze ich mir womöglich
Sympathien?“ Die Angst, allein zu stehen, ist ein harter Prüfstein
auf dem Weg zu Zivilcourage. Sie kann durch halt-gebende Gegenkräfte
überwunden werden: durch das Erfüllt-Sein von Menschenrechten,
einen starken Glauben, durch die Bindung an Vorbilder und das Vertrauen
in die eigene Wirkungskraft.
Was ist Zivilcourage?
Bitte lesen Sie den Leitgedanken Nummer 1 und 2:
1. Bei Unrecht wegschauen ? - Persönliche Verantwortung für
Menschenwürde übernehmen
Was gehen mich die anderen an? Misch dich nicht ein, es könnte
dir schaden! Schau lieber nicht hin, sonst bekommst du Ärger. Lass
die Finger weg, es bringt ja doch nichts! - Mit solchen Begründungen
verbergen wir die Furcht vor verantwortungsbewusstem Widerspruch. Am meisten
ängstigt es, allein zu stehen, wenn wir uns öffentlich einmischen.
Sozialer Mut wächst aus der Selbstverpflichtung, das Rechte zu tun:
keinem zu schaden und niemanden zu verletzen, sondern andern zu helfen
und die eigene Würde zu wahren.
2. Was ist Zivilcourage? - Mit sozialem Mut die Angst überwinden
und eingreifen
-
Zivilcourage ist der soziale Mut, die persönliche Meinung
frei zu äußern, auch gegenüber der Obrigkeit
und Mehrheit. Die Einmischung wird auch dann gewagt, wenn sie den
Vorgesetzten, Regierenden oder der Umgebung missfällt.
-
Bürgermut beginnt damit, genau hinzusehen und wahrzunehmen,
was wirklich ist: Statt wegschauen und das Unrecht in Schweigen hüllen.
-
Menschen mit zivilem Mut stehen zu ihrer Überzeugung,
auch wenn ihnen ihr Einspruch Nachteile bringen mag.
-
Sich zivilcouragiert einmischen geschieht nicht privat, sondern
öffentlich. Sie macht die Mitmenschen auf ein gesellschaftliches
Problem aufmerksam.
-
Inhalte des sozialen Mutes sind Themen, die alle Bürger angehen;
sie betreffen das Zusammenleben; deshalb sind sie politisch.
-
Zivilcourage ist gewaltfrei. Menschen mit sozialem Mut
setzen sich „zivil” mit anderen auseinander, gewaltlos
und ohne Macht auszuüben.
-
Sozialer Mut zeigt sich im Eintreten für Humanität:
Dem Unrecht mit moralischem Einspruch begegnen, Mensch und Natur schützen,
„Fremde“ und „Andere“ gelten lassen, die Würde
des Menschen achten, Schwachen helfen, Demokratie wagen.
Politisch-moralischer Protest – Vermächtnis eines
Physikers für eine bessere Welt
Mit sozialem Pflichtgefühl und mit persönlicher Leidenschaft
schlossen sich mutige Menschen immer wieder zu Bürgerinitiativen
zusammen und wirkten als Minderheit in die Mehrheit hinein. So wurde in
Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie eingeleitet. Ein
Wegbereiter war der durch die Tschernobyl-Katastrophe zu Tode erschrockene
und dann unerschrockene Wladimir Tschernousenko. Er leitete die Aufräumarbeiten
und erstellte einen Bericht über Tausende von Menschenleben, die
der Reaktorunfall forderte, über Hunderttausende, die den mörderischen
Strahlenfeldern ausgesetzt waren, und über politische Fehlentscheidungen,
die ungezählte Menschen dem langsamen Strahlentod aussetzten. –
Die Regierung weigerte sich, seinen Bericht zu veröffentlichen. Sie
versuchte, den Atomforscher einzuschüchtern; aber der hielt an seiner
wissenschaftlichen und humanen Überzeugung fest: die Atomkraft sei
die lebensgefährlichste Umweltbedrohung unserer Zeit, militärisch
und zivil.
Wegen seines Bürgermutes wurde Wladimir Tschernousenko aus dem
Institut für Physik entlassen und lebte fortan in Deutschland. Wer
den Mächtigen widerspricht, hat mit Nachteilen zu rechnen. Er muss
mit sich selbst eins darüber werden, wie viel Benachteiligung er
auf sich nehmen will, um sich nicht zu überfordern. Der Fünfzigjährige
war selbst strahlenverseucht und wusste um seine begrenzte Lebenszeit.
Diese widmete er der Aufgabe, den Betrug der Atomindustrie zu entlarven.
Er setzte bis zuletzt sein Wissen, seine leidvolle Erfahrung und seine
Menschenliebe ein. Inzwischen starb er an der Strahlenkrankheit. Selbst
von Mitleid bewegt, ließ er immer wieder von der Katastrophe Betroffene
zu Wort kommen: „Irgendwo im Himmel wurde ein Becher Gift ausgegossen.
Es fiel wie schwarzer Regen auf die rauchende Stadt.“ – Wer
hält jene zurück, die den Giftbecher ausgießen? Bertolt
Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan“:
Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen
zu!
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt seine Opfer
Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen.
Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen!
Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein
Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht
Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!
Bertolt Brecht
Findet die Menschheit durch Gehorsam ihr Ende? - Was lässt
uns Stand halten?
Zeigen wir zu wenig Missfallen, wagen wir den Aufruhr nicht? Erich Fromm
befürchtet, die Erde könnte am Gehorsam zu Grund gehen;
er schreibt: „Im alttestamentlichen Bericht von Adam und Eva begann
die Menschheit mit einem Akt des Ungehorsams. Damit mussten Menschen
den Schritt in Unabhängigkeit und Freiheit tun. In der Epoche atomarer
Drohung ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheit mit Akten des
Gehorsams ihr Ende findet. Denn: Technisch leben wir
im Atomzeitalter, aber emotional und moralisch leben
wir in der Vorzeit.“ Ungehorsam könnte lebens-rettend sein.
Aber was hilft Menschen, aus der Reihe zu tanzen, Vorgesetzten zu widersprechen,
den Mächtigen zu widerstehen, gegen die herrschende Politik aufzubegehren?
Danach fragte ich mutige Bürger. Bei aller Vielfalt der Antworten
trat ein leitendes Merkmal hervor: die überzeugte Orientierung
an menschlichen Grundwerten: Zugewandte Wahrnehmung des Mitmenschen, Nächstenliebe,
Ehrfurcht, Gerechtigkeit. Zivilcourage ist kein Verhalten, sondern
eine Tugend. Aus humanen Wertvorstellungen erwächst die
Kraft, sich für das Gute einzusetzen. Menschen mit sozialem Mut denken
und fühlen sich in andere ein. Sie verwandeln ihr Mitleid
in Zorn und Hilfsbereitschaft.
Für Jean-Jacques Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame Menschennatur
nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen,
einen Mitmenschen leiden zu sehen. Dieser eingeborene Widerwille, einen
Menschen leiden zu sehen, motiviert dazu, Autoritätsangst, Konfliktscheu
und Anpassungsbereitschaft zu überwinden. Sozial mutige Bürger
drücken ihre innere Einstellung oft so aus: „Ich spüre
die Verantwortung, mich für das einzusetzen, was human ist, und was
ich für gut und richtig halte. Ob ich tatsächlich etwas zum
Besseren wenden kann, oder ob es mir überhaupt nicht gelingt, etwas
zu verändern, weiß ich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten
zu. Ich lasse nur eines nicht zu: dass es grundsätzlich keinen Sinn
mache, das Gute anzustreben“ (Nach Václav Havel).
„Nicht um acht Millionen verkaufe ich meine Überzeugung“
– Ist Frau Kraus verrückt?
Mit dieser Einstellung entwickelte Hannelore Kraus Zivilcourage gegen
Habgier und Größenwahn. Aus sozialen und Umweltgründen
Gründen verhinderte sie in Frankfurt den Bau des höchsten Wolkenkratzers
Europas. Dazu gründete sie eine Bürgerinitiative und verweigerte
als Nachbarin dem 264 Meter hohen Bauvorhaben ihre Zustimmung. Die Bauherren
boten ihr für die Unterschrift drei Millionen Mark, später gar
acht Millionen. Stadträte und Baugesellschaft bedrängten, bedrohten
und schikanierten sie. Sie sagte mir: „Dass ich auch für acht
Millionen nicht unterschrieb, brachte die Banker zur Raserei. Sie konnten
nicht begreifen, dass etwas nicht käuflich war. Aber ich verkaufe
auch nicht um acht Millionen meine Überzeugung.“
Gilt so jemand in unserer Gesellschaft nicht als absonderlich? In meiner
Umgebung erzählte ich, dass ich mit der couragierten Frau sprechen
werde, um Beweggründe für ihren Widerspruchsmut zu erforschen.
Da begegneten mir Zweifel: Hat die Frau bereits so viele Millionen? Will
sie sich nur hervortun? Unterliegt sie einem Gerechtigkeitswahn? Schlägt
sie das Achtmillionen-Angebot aus, weil sie psychisch krank ist? Leidet
sie unter neurotischem Altruismus? Ist sie eine Querulantin?
Nichts von den Unterstellungen traf zu: Ich erlebe eine lebendige Frau
mittleren Alters, spontan im Kontakt, weit gereist und gebildet, früher
engagiert in der Entwicklungshilfe. Sie widerstand den mächtigen
Bau-Herren, um das „Gutleut-Viertel“, zu erhalten. Den Menschen,
die dort wohnen, fühlt sie sich verbunden. Ihr Widerstand galt dem
kommerziellen Denken, das sich nicht an menschlichen Lebenswerten orientiert.
Insofern war es zutreffend, wenn manche Leute sie für „verrückt“
hielten, nämlich „abgerückt“ von der Marketing-Gesellschaft,
vom kapitalistischen Denken. In der wird alles mit Gewinn „vermarktet“,
auch sich muss man bis zur Selbstausbeutung „gut verkaufen“.
Eine soziale Tugend gegen Habgier, Größenwahn und
das Marketing-Prinzip
Ich fragte Frau Kraus nach ihrer Lebensgeschichte: ob ihre standhafte
Haltung etwas mit ihrer Kindheit zu tun habe. Klar und bescheiden antwortete
sie: „Stets das Rechte zu tun” wäre bei ihr zu Hause Leitsatz
gewesen. Sie erzählte eine Begebenheit, die in der Familie als vorbildlich
galt. Ihr Großvater war Werkmeister einer Heizungsfirma. Ein Kunde
prozessierte, weil beim Bau einer Feuerungsanlage Fehler gemacht worden
seien. Der Großvater musste die Anlage überprüfen. Dabei
zeigte sich, dass falsch geplant wurde. Als er das dem Arbeitgeber mitteilte,
beschwor ihn dieser, zu schweigen. Der Großvater weigerte sich,
weil das „nicht anständig” sei. Da drohte man ihm mit Entlassung.
Doch er stand unbeirrt zur Wahrheit.
Im aktuellen Konflikt zwischen den mächtigen Geldgebern
und der nicht ohnmächtigen Frau Kraus stießen die von Erich
Fromm beschriebenen Grundhaltungen menschlicher Existenz aufeinander:
Haben oder Sein. Die Charakter-Orientierung des Habens konzentriert
sich auf materiellen Besitz, auf Macht, Gewinnsucht, Aggressivität.
Die Charakter-Orientierung des Seins hingegen gründet auf
Anteilnahme, menschliches Wachstum, auf Solidarität und
öffentliches Engagement. Die lebensleitende Frage „Haben oder
Sein“ stellte sich Hannelore Kraus. Sie leistete Widerstand nach
dem Lebensprinzip des Seins. – „Widerstand“,
ein Gedicht von Remco Campert:
Widerstand fängt nicht mit großen Worten an
sondern mit kleinen Taten
wie der Sturm mit leisem Rascheln im Garten
wie breite Flüsse
mit einer kleinen Quelle
versteckt im Wald
wie Liebe mit einem Blick
einer Berührung
etwas das auffällt in der Stimme
sich selber eine Frage stellen
damit fängt Widerstand an
und dann einem andern die Frage stellen
Fragen zum eigenen Bürgermut
„Sich selber eine Frage stellen, damit fängt Widerstand an.“
Wie geht es Ihnen mit sozialem Mut? Ich möchte mit meinem Buch Leserinnen
und Leser anregen, Ihre persönlichen Berührungspunkte zu finden
und ich möchte Ihnen hierzu eine kleine Schnaufpause gönnen.
-
Was bewegt Sie am Thema Zivilcourage: in der Familie, der
Partnerbeziehung, im Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten, zu Eltern
und Lehrern, zu Freunden, zu Kindern und Jugendlichen, in der Schule,
auf der Straße...?
-
Wie geht es Ihnen persönlich in Mut-Situationen: Trauen Sie
sich, Ihre Meinung zu sagen? Wie ist es, wenn Sie Kritik oder Ablehnung
befürchten? Wann gelingt es Ihnen, Ihre Überzeugung mitzuteilen,
und in welchen Situationen fällt es Ihnen schwer?
-
Zur Zivilcourage gehört „sich wehren“, „eingreifen“,
„sich für wertvolles Handeln einsetzen“. Was bewegt
Sie derzeit unmittelbar? Wie ist es Ihnen in einer bestimmten Situation
gelungen, sich zivilcouragiert einzumischen und sich über Ihren
Mut zu freuen?
-
Passt auf Sie manchmal – wie auch auf mich – Karl Valentins
Ausspruch: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen
haben wir uns nicht getraut“? Weshalb haben Sie sich „nicht
dürfen getraut“? Was hemmt Sie, so einzugreifen, wie Sie
sich das wünschen?
-
Menschen sind unterschiedlich mutig. Jeder kann versuchen, sein
persönliches Maß an sozialem Mut zu entwickeln, das ihn
nicht überfordert, ihm nur so viel Benachteiligung auferlegt,
wie er ertragen kann. Christa Wolf meint: „Wer sich in einer
verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt.“ Kennen Sie
die Gefahr, sich in einer verkehrten Welt einzurichten und dabei selbst
verkehrt zu werden – und wie entgehen Sie ihr?
Bitte denken Sie ein paar Minuten darüber nach, vielleicht mit
Ihrer Nachbarin. In der Regelschule nennt man das „Schwätzen“,
in den eher reformpädagogischen Schulen nennt man es Partnergespräch...
„Ich tue, was angeordnet wird“ - Der gefühlsblinde
Gehorsam
Auf dem Weg zu Zivilcourage kann Gehorsam ein Hindernis sein.
Gehorchen zählt zu den Grundtugenden menschlichen Zusammenlebens.
Kinder müssen folgen, um ungefährdet heranwachsen und
Selbstbestimmung entwickeln zu können. Die Gesellschaft braucht
den Gehorsam, um das Zusammenleben zu regeln. Gehorsam wird gefährlich,
wenn Autoritäten ihn fordern, ohne dass der Befehl hinterfragt werden
darf. Die Gehorsamsexperimente von Milgram zeigten: 62 % der Versuchspersonen
befolgten die Weisung einer wissenschaftlichen Autorität, anderen
Menschen Schmerz zuzufügen. Sie bestraften einen vermeintlichen Schüler
– in Wirklichkeit war es ein Schauspieler – mit bedrohlichen
Elektroschocks bis zu 450 Volt, wenn er Fehler machte. „Viele gehorchten
dem Versuchsleiter, gleichgültig, wie heftig das Opfer unter Schock
auch fleht, gleichgültig, wie schmerzhaft die Schocks zu sein scheinen,
gleichgültig, wie sehr die bestrafte Person darum bittet, erlöst
zu werden. Die Studie zeigt die Bereitschaft, auf Befehl einer Autoritätsperson
nahezu alles zu tun. Personen, die Unrecht begehen, sind oft nicht böse,
sondern folgen in gefühlsblindem Gehorsam. „Todesarbeiter“
heißen in den USA die Henker. Präsident Bush befahl als Gouverneur
extrem viele Hinrichtungen. Einer seiner Scharfrichter erklärt, wie
es ist, Menschen auf dem elektrischen Stuhl zu töten:
„Eine Exekution ist etwas, das getan werden muss, und gute Leute,
pflichtbewusste Leute, die an das amerikanische System glauben, sollten
es tun. Es ist einfach ein Job, ich nehm' das nicht so persönlich.
Es ist nicht so, dass ich gegen die zum Tode verurteilte Person etwas
habe. Ich führe einfach aus, was mir aufgetragen wurde… Dabei
kommt es unserem Team darauf an, ohne Gefühle vorzugehen. Die Hinrichtung
wird in kleine Aufgaben unterteilt und ausführlich geprobt. Es ist
ja doch etwas stressig, wenn man eine Person umbringt… Je weniger
dir dabei durch den Kopf geht, desto besser. Mein Auftrag ist das rechte
Bein. Ich roll' sein Hosenbein auf, lege die Elektrode an und schnalle
das Bein mit einem Gurt fest. Es kann immer noch Komplikationen geben,
wenn etwa der elektrische Strom zu stark eingestellt ist. Dann verbrennt
der Körper des Verurteilten und den Zeugen wird vom Geruch des verbrannten
Menschenfleisches übel. Aber das sind Anfängerprobleme, bei
einem eingearbeiteten Team läuft alles wie am Schnürchen.“
-
„Ich habe nur meine Pflicht getan“, erklärte der
KZ-Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, der Hunderttausende
ermorden ließ.
-
„Wir haben unsere Pflicht getan, niemand kann uns etwas vorwerfen“,
beteuerte das Lehrerkollegium eines Gymnasiums: Ein Schüler hatte
sich von der Brücke in den Tod gestürzt, nachdem der Lehrer
vor allen anderen bekannt gab, dass er sitzen bleiben muss.
-
„Ich habe pflichtgemäß und nach geltendem Recht
gehandelt“, so begründete der Richter, dass er einen Achtzehnjährigen
aufhängen ließ, weil dieser als Soldat drei Tage vor Kriegsende
aus Angst davonlief.
-
„Ich tue, was vorgeschrieben ist“, sagte die Lehrerin,
die ein intellektuell schwaches und menschlich vernachlässigtes
Kind durch Fünfen und Sechsen ordnungsgemäß demütigt.
-
„Ich beuge mich aus Treue zur Partei dem Fraktionszwang“,
beschönigt der Abgeordnete. Er stimmte gegen seine Überzeugung
dem Bau eines Atomreaktors zu.
Durch Gehorsam kann Pflichterfüllung zur Unmoral werden. „Der
Befehl ist zum gefährlichsten Element im Zusammenleben der Menschen
geworden“, schreibt Elias Canetti. „Man muss den Mut haben,
sich dem Befehl entgegen zu stellen und seine Herrschaft zu erschüttern.“
In militärischer Unterordnung aufgegebene Eigen-Bewegung
Beim Militär baut der Gehorsam auf der reflexartigen Befolgung
von Befehlen auf. Der Soldat, der andere tötet und zum Krüppel
macht, wird nicht von destruktiven Impulsen dazu veranlasst, sondern vom
Prinzip absoluten Gehorsams. Dies wird im Interview mit dem Bomberkommandanten
deutlich; er flog eine B-52, die jetzt Bomben über dem Irak ausstreute:
Reporterin: Captain Weiss, Sie sind Kommandant dieser
B-52, was ist Ihre Aufgabe?
Captain: Die Bomben ins Ziel zu bringen und wieder nach Hause
zu kommen natürlich.
Sie wissen, die Maschine wurde für atomare Waffen entwickelt, wir
flogen einige Jahre mit diesen großen Koffern herum. Es zeigte sich
aber, dass sie auch für konventionelle Aufgaben hervorragend ist.
Wir bringen 150 Bomben unter, das entspricht einer Sprenglast von 45 Tonnen.
Reporterin: Was bombardieren Sie? Welche Art von Zielen?
Captain: Wir bombardieren die Ziele, die uns angegeben werden,
wir tragen sie in unsere Karten ein, und tun die Arbeit, die unsere Befehle
vorschreiben. Was das für Ziele sind, wir fliegen so hoch, dass wir
sie nicht zu sehen kriegen. Wir erfahren über Funk, ob unsere Bomben
ordnungsgemäß im Zielgebiet explodiert sind.
Reporterin: Kann es sein, dass sich unter Ihren Zielen auch
zivile befunden haben?
Captain: Ich glaube nicht, dass man das noch trennen kann, wir
bombardieren große Flächen.
Reporterin: Würden Sie zivile Ziele beunruhigen?
Captain: Ich habe nicht darüber nachgedacht, es ist nicht
meine Sache, ich bin der Captain dieser B-52, der seine Arbeit
macht. Es ist viel Routine.
Reporterin: Hatten Sie bei einem Ihrer Einsätze moralische
Probleme?
Captain: Wir haben immer sehr aufgepasst, keinen Fehler zu machen.
Wir sind, glaube ich, eine ziemlich gute Crew.
Militärischer Gehorsam lässt die persönliche Verantwortung
verstummen.
Mit moralischer Überzeugung und emotionalem Beteiligt-Sein
den Mächtigen widerstehen – „Ich hoffe, dass ich mich
nie selber verrate“
Ich wende mich mit dem Problem autoritätshörigen Gehorsams
und mutigen Ungehorsams einem Beispiel aus dem Alltag zu. Eine Jura-Studentin,
Christine R., nahm die fremdenfeindliche Äußerung ihres Hochschullehrers
nicht widerspruchslos hin. Der plädierte dafür, Ausländer,
die in Deutschland gegen das Gesetz verstießen, für die gleiche
Tat härter zu bestrafen als Deutsche. Denn, so meinte er, „diese
Täter haben infolge der Gewöhnung an ihr heimatliches Strafniveau
eine geringere Strafempfindlichkeit“. Christine R. widersprach dem
Professor, obwohl sie sich von ihm prüfen lassen musste. Hundert
andere Studenten im Hörsaal schwiegen. Sie aber empörte sich
über die Un-Gerechtigkeit und kritisierte den Strafrechtsprofessor
als „rassistisch“. Der drohte und forderte eine öffentliche
Entschuldigung. Trotz zu erwartender Nachteile hielt Christine R. an ihrer
aufrechten Haltung fest. Darauf verklagte sie der Hochschullehrer wegen
Beleidigung. Das Landgericht wies jedoch die Klage zurück und gab
der mutigen Bürgerin recht. Sie habe ihr demokratisches Grundrecht
wahrgenommen.
Diese Studentin ließ ihr Selbstbild vom ungleich mächtigeren
Universitätsprofessor nicht beschädigen und widerstand der Einschüchterung.
Christine Roths Bürgermut enthielt noch eine spezielle Form
der Zivilcourage. Ingeborg Bachmann nennt sie „Tapferkeit vor dem
Freund“. Die Studentin hatte nämlich zu dem Professor eine
wichtige Arbeitsbeziehung. Der schätzte sie wegen ihrer Klugheit
und wollte sie als Assistentin haben. Durch den Widerspruch riskierte
sie die Zugehörigkeit. „Tapferkeit vor dem Freund“ ist
der soziale Mut, innerhalb der eigenen Gruppe eine gegenteilige
Meinung zu vertreten, Widerspruch in der eigenen Partei zu wagen,
im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, innerhalb Kirche, in der Schule. In
ihrem Gedicht „Alle Tage“ schreibt Ingeborg Bachmann:
Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzone gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen
...
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtbeachtung
jeglichen Befehls.
Bei der „Nichtbeachtung jeglichen Befehls“ wirkte in Christine
R. als Gegenkraft zur Angst eine ausgeprägte moralische
Motivation: Sie trat für Gerechtigkeit ein. Aber auch emotionale
Motive bewegten die junge Frau. Früh schon nahm sie sich in der Schule
schwacher Mitschüler an. Aus ihrer Hilfsbereitschaft heraus hat sie
ihren Kameradinnen in der Prüfungssituation „vorgesagt“
– und dafür die Note Sechs bekommen. „Ich hoffe, dass
ich mich nie selber verrate“, sagte sie im Gespräch mit mir.
Heute ist sie eine Rechtsanwältin, die sich auch der Schwachen annimmt.
Ist ziviler Mut lernbar? - Schritte zur Zivilcourage
Ja, wie jede Tugend. Ich möchte Sie dazu ermutigen.
Bitte lesen Sie in den Leitgedanken, Seite 2, Nummer 3
3. Sozialen Mut üben: großer Mut zu kleinen Taten
Die Angst annehmen – Angst ist eine Kraft
Mutig handeln bedeutet nicht, furchtlos zu sein. Nur wer seine Ängste
zulässt, kann Mut entwickeln, sich mit der Angst einmischen
und für gesellschaftliche Veränderungen eintreten. Angst verweist
uns auf die Gefahr, der wir begegnen, und vor der wir uns schützen
müssen. Deshalb ist es wichtig, angstfähig zu sein.
Sich Sachverständnis aneignen und den argumentativen
Widerspruch üben
Sachkenntnis macht mitsprachefähig. Wer sachkundig ist, kann argumentieren
und stärkt sein Selbstbewusstsein. Fachliche Kompetenz ist eine Gegenkraft
zur Angst und eine Voraussetzung dafür, soziale Anliegen durchzusetzen.
Wir brauchen Sachkenntnis dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen
betroffen sind, an denen wir etwas verändern möchten.
Rückhalt in der Gruppe suchen - Zusammenarbeit vermindert
die Furcht
Wer öffentlich widerspricht, kann von der Mehrheit isoliert werden.
Deshalb ist es hilfreich, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren.
Die Zugehörigkeit erleichtert es, für demokratische Grundwerte
einzutreten. Der Zusammenhalt in der Gruppe richtet sich nicht gegen „Feinde”,
sondern dient menschlichen Grundwerten, tritt für das Gute ein. Durch
Kooperation wächst das Sachverständnis.
Sich mit Wertvorstellungen kenntlich machen - Der ethisch
begründete Einspruch
Erkennen lassen, wie wir denken, für welche Werte wir uns einsetzen,
statt anderen unsere Meinung aufzwingen zu wollen. Wir vertreten glaubwürdig
die eigene Überzeugung und versuchen gleichzeitig, Andersdenkende
zu verstehen. Dadurch gelingt es, Überzeugungs-Machtkämpfe zu
vermeiden und sich zu verständigen.
Persönliche Gefühle einbeziehen – Mitfühlfähigkeit
und Mitleid
Fürsorge und Verantwortungsgefühl für die Nächsten
und für sich selbst, motivieren zu sozialem Mut. Aus dem Widerwillen,
Mitmenschen leiden zu sehen, erwächst die Kraft, für das Gute
einzutreten. Es ist hilfreich, nicht nur sachlich zu argumentieren, sondern
sich auch mit dem persönlichen emotionalen Engagement begreifen zu
lassen.
Halt gebende Ideen und Überzeugungen festigen –
Moralische Gegenkräfte
Zum Schwierigsten in Zivilcourage-Situationen gehört die Gefahr,
allein zu stehen. Um die Angst auszuhalten, müssen wir erfüllt
sein vom Sinn unseres Engagements. Wir brauchen ethische und religiöse
Wertvorstellungen, Vorbilder, denen wir folgen, Hoffnung und Zuversicht.
Wie kann ich so handeln, dass ich mir selbst treu bleibe?
Sich gewaltlos auseinandersetzen – Bürgermut
ist zivil
Gewaltfreies Eingreifen vermindert die Gefahr, dass sich Konflikte durch
Gegenaggression verschärfen. Der Widerspruch geschieht argumentativ,
nicht aggressiv. Gegner werden nicht zu Feinden gemacht. Gewaltfreiheit
bezieht sich auch auf Gewalt durch verletzende Worte.
Kleine Schritte wagen - Sozialen Mut einüben
Wie jede Tugend erfordert Bürgermut fortgesetztes Üben: In
Familie und Freundeskreis, der Schule, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit.
Mit kleinen Mutproben beginnen: Sich mit der eigenen Meinung erkennen
lassen, für die persönliche Überzeugung stehen, Einspruch
erheben, wenn Unrecht geschieht. - Kleine Schritte verhindern, dass wir
uns überfordern. Wir sollten unser persönliches Maß an
Bürgermut herausfinden und die Gegenkräfte zur Angst stärken.
Das Gewissen warnt vor dem falschen Leben – Gewissenskrankheit
nach Hiroshima
In Interviews sagten mir Menschen häufig, ihr sozialer Mut hinge
mit dem Gewissen zusammen. Ihre „innere Stimme“ dränge
sie zu tun, was sie für wertvoll halten. Muss ein Mensch gegen
sein Gewissen handeln, kann er an Seele und Leib erkranken. Das zeigte
sich an einem Piloten der Flugzeug-Besatzung, die Hiroshima mit der Atombombe
zerstörte. Mayor Eatherly konnte die Untat nicht verarbeiten; sie
überstieg seine moralische Fassungskraft. Noch Jahre nach dem Atombombenabwurf
beunruhigten ihn qualvolle Ängste. In seinen Träumen sah er
die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima verbrennenden
Menschen, die verwüstete Stadt, die verkohlten Leichen. Er steckte
Geldscheine in Umschläge und sandte sie nach Hiroshima; in Briefen
entschuldigte er sich. Schließlich versuchte er sich mit Schlafmitteln
zu töten.
Nun beging Eatherly sonderbare Straftaten: Er fälschte Schecks
über minimale Summen, verübte einen Raubüberfall, bei dem
er nichts stahl. Er wollte sich erneut töten und schnitt sich die
Pulsadern auf. Diagnose des Militär-Hospitals: „Patient von
der Wirklichkeit zurückgezogen. Angstzustände, Gefühlsreaktionen
abgestumpft, Wahnvorstellungen.“ – Die Gewissensqualen des
Hiroshima-Piloten wurden von der Psychiatrie zu Abgestumpftheit erklärt.
Fortan nannte man ihn nicht mehr den „Helden von Hiroshima“,
sondern den „verrückten Hiroshima-Piloten“. Er stemmte
Türen von Postämtern auf, ohne in die Kasse zu greifen, überfiel
einen Kassierer, ohne Geld zu rauben. Es schien, als müsste er seine
Schuld durch Ersatzverbrechen beweisen. Eatherly erklärte sein Verhalten
so: Er habe sich am Tag des Atombombenabwurfs entschlossen, sein Leben
der Aufgabe zu weihen, für die Ächtung aller Atombomben zu kämpfen.
„Die Schuld, die mit einem solchen Verbrechen verbunden ist, hat
in meinem Geist und meinem Gemüt viel Verwirrung angerichtet. Beinahe
acht Jahre verbrachte ich in Hospitälern und eine kurze Zeit in Gefängnissen.
Ich war in Gefängnissen stets glücklicher, weil ich dadurch,
dass ich bestraft wurde, die Schuld los werden konnte.“
Durch seine Gewissensqualen kritisierte Claude Eatherly das gesellschaftliche
Gewissen. Er wurde als psychisch abnorm abgestempelt, obgleich sein Kranksein
bezeugte, wie moralisch empfindsam er war. Konnte man von einem Soldaten
erwarten, gleichgültig zu sein, nachdem er mitwirkte, hundertvierzigtausend
Menschen zu töten? Unter denen, die die Massentötung von Hiroshima
begingen, war ein anderer Pilot, den schienen keine Gewissensbedenken
zu martern. Allerdings verübte er Selbstmord genau am Jahrestag des
Atombombenabwurfs. Zufall, oder Ausdruck des selbstmörderischen Gehorsams-Wahnsinns
unserer Epoche? – Noch weiß niemand, welche seelischen Beschädigungen
Soldaten aus dem gegenwärtigen Krieg erleiden – Sieger
wie Verlierer. Der todkrank vom Krieg heimgekehrte Wolfgang Borchert beschrieb
diese Beschädigung:
Der Soldat
Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause
Aber er hatte kein Brot
da sah er einen, der hatte Brot
Den schlug er tot
Du darfst doch keinen tot schlagen, sagte der Richter
Warum nicht? sagte der Soldat
Ein Gleichnis auch dafür, was die Brutalisierung der amerikanischen
Politik durch Präsident Busch für Folgen haben könnte?
Friedlosigkeit, eine seelische Krankheit - Den Frieden lernen
Überall auf der Welt werden Jugendliche Monate lang zum Kriegführen
ausgebildet.
-
sie trainieren, wie man Mitmenschen tötet, die vorher zum „Feind“
erklärt wurden;
-
man macht sie bereit, auch das eigene Leben zu zerstören;
-
sie üben, wie man Menschen mit einer Maschinenpistole tod-sicher
ins Herz trifft;
-
sie proben, tödliche Bomben mit Computerhilfe zielgenau abzuwerfen;
-
sie lernen Minen zu legen, die auch Kinder und Frauen zerfetzen
oder verstümmeln
Diese Ausbildung ist erfolgreich. Viele meinen, Kriege seien gerecht
oder unabwendbar. Der Philosoph und Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker
sagt dagegen: „Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit. Denn
„Friede ist Lebensbedingung des Atomzeitalters, wenn sich
die Menschheit nicht vernichten soll.“ - Nicht nur dieser
Krieg im Irak ist zu verhindern: der Krieg an sich muss als Konfliktregelung
abgeschafft werden. „Falls wir nicht mit dem Siegen aufhören,
siegen wir uns zu Tode“, erklärt in Christa Wolfs „Kassandra“
die Seherin dem Wagenlenker:
Kassandra: Ich sage ihnen: Wenn Ihr aufhören
könnt zu siegen, wird diese Eure Stadt bestehen.
W.: Gestatte eine Frage, Seherin - (sagt der Wagenlenker).
K.: Fragt!
W.: Du glaubst nicht daran?
K.: Woran?
W.: Dass wir zu siegen aufhören können?
K.: Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte.
W.: So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet,
der Untergang in unsere Natur gelegt?
K.: Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann. Komm näher,
Wagenlenker. Hör zu.
Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles
weiß. So mag es in
der Zukunft Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln
wissen.
Kennen wir unsere Natur nicht? Wir könnten statt des Kriegführens
das Friedenführen lernen, zum Beispiel:
-
Anstatt in „Geschichte“ viel von „Kriegen“
zu hören: Erfahrungen aufzeigen und studieren, in denen es geglückt
ist, waffenlos Widerstand zu leisten.
-
Lernen, mit Gewalt umzugehen und sie zu verhindern, auch im Straßenverkehr.
-
Ideen erfinden, Krieg zu vermeiden; alle Erkenntnisse der Friedensforschung
nutzen.
-
Üben, wie man miteinander streitet, ohne sich zu verletzen,
auch im Parlament.
-
Lernen, aus dem Machtkampf auszusteigen und sich zu verständigen,
auch in der Familie.
-
Üben, wie man Konflikte gewaltfrei regelt, auch in
der Schule.
-
Lernen, zu demonstrieren, zu protestieren und gewaltfrei Widerstand
zu leisten.
-
Erproben, wie sich Konfliktsituationen entspannen, wenn wir
einseitig abrüsten.
All das ist so gut lernbar wie das Kriegshandwerk. Schulen, Universitäten,
alle Bildungseinrichtungen sollten Friedens-Wissen vermitteln und friedliches
Handeln einüben. Albert Einstein fragte den Begründer
der Psychoanalyse, wie Krieg zu verhindern sei. Sigmund Freud antwortete:
„Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluss des Destruktionstriebes
ist, so liegt es nahe, den Gegenspieler des Destruktionstriebes anzurufen,
nämlich die Liebe. Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen
hervor ruft, muss dem Krieg entgegen wirken. Die Religion sagt das Gleiche:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Die Wiedererkennung des Menschen durch den Menschen
Gefühlsbindungen? Der französische Philosoph Alain Finkielkraut
berichtet von einem Soldaten im ersten Weltkrieg: Lussu schlich auf allen
Vieren an die feindliche Stellung heran. Er geriet an einen Ort, von dem
aus er den gegnerischen Schützengraben genau beobachten konnte. „Ein
seltsam vertrautes Bild bot sich seinem Blick dar. Das also war er, der
Feind. Menschen und Soldaten wie wir, die aussahen wie wir,
in Uniformen wie wir. Sie bewegten sich, redeten miteinander,
genauso wie es unsere Kameraden taten. Seltsam!“
Aufgebrochen, um als Scharfschütze den Feind zu töten, stößt
Emilio Lussu unversehens auf Soldaten, die ihm gleichen. Er sieht jene
von nahem, die er von ferne bekämpfte. „Es stand ein Mensch
vor mir. Ein Mensch! Ich sah deutlich seine Augen und jeden Zug seines
Gesichts... Der Mensch dort ist kein Gegenstand in seiner Schussweite
mehr, sondern bereits – der Nächste. Lussu nimmt den Finger
vom tödlichen Abzug. Plötzlich hat ihn die Unruhe des Friedens
ergriffen, die natürliche Sanftmut des Menschen. Diese macht ihn
untauglich für seinen Beruf als Soldat: „Die Wiedererkennung
des Menschen durch den Menschen.“
Persönlichkeitsrechte der Schüler schützen –
„Das sind ja nur Einzelfälle“
Die „Wiedererkennung des Menschen durch den Menschen“ tut
auch in der Schule not. Stefan fühlte sich von den geringschätzigen
Worten des Lehrers verfolgt: „Deutsch wirst du nie lernen. Da sehe
ich schwarz für dich.“ – „Wie dumm du dich wieder
anstellst!“ – „Was hast du denn auf dem Gymnasium
zu suchen? Du gehörst doch nicht hier her.“ Ausstoßende
Worte drohen Kindern mit dem Verlust der Zugehörigkeit; sie wirken
wie Gift: „Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung
tut“, schreibt der Philosoph Victor Klemperer: „Sprache kann
aus giftigen Elementen gebildet oder zu Trägern von Giftstoffen gemacht
werden. Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt
verschluckt, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Manche Menschen spüren lebenslang winzige Arsendosen, die man ihnen
durch herabwürdigende Worte verabreichte. „Das sind ja nur
Einzelfälle“, lautet der unbarmherzige Satz, mit denen Kinder
den ausgeliefert werden.
Der Oberstudienrat liest bei jeder Aufsatznachbesprechung mangelhafte
Arbeiten vor, ohne die Schüler um Erlaubnis zu bitten. Er sucht missglückte
Sätze heraus und stellt Kinder bloß. Die Rückgabe der
Arbeiten gleicht einem Schauprozess; sie geschieht in der Reihenfolge
der Zensuren von sehr gut bis ungenügend, begleitet von ironischen
Kommentaren: „Das war ja eine Glanzleistung.“ Das Abfragen
für Noten nennen die Jugendlichen „Abfrage-Folter“. Der
Lehrer sucht nicht nach dem Können, sondern nach dem, was
die Schüler nicht können. Schwache lacht er hartherzig
aus. – Der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, der seine 200
jüdischen Waisenkinder nicht verließ, sondern freiwillig mit
ihnen in die Gaskammern des Konzentrationslagers schritt, obwohl er dem
Tod hätte entgehen können, sagte: „Ein Kind auszulachen,
ist ein Verbrechen.“ Dieses Verbrechen gehörte hier zum Alltag.
Niemand klagte dieses Verbrechen an, obwohl seit dem Jahr 2000 in Deutschland
ein Gesetz den Kindern gewaltfreie Erziehung garantiert und seelische
Verletzungen unter Strafe stellt.
Eltern beschwerten sich, aber der Lehrer verteidigte sich: Auf dem Gymnasium
gehe es nicht so sanft zu wie in der Grundschule. Die Schüler wären
ihm dankbar, wenn er sie hart her nähme. Er pries seine Unbarmherzigkeit
als Wohltat. Der Elternbeirat meinte, man dürfe sich nicht in den
Unterricht einmischen. Dabei handelte es sich darum, die Würde der
Schüler zu verteidigen. Lehrerkollegen verurteilten das bloßstellende
Verhalten, aber schwiegen. Väter begründeten ihr Schweigen damit,
der Lehrer ließe es die Schüler büßen, wenn sie
sich beklagten. Nein: Die Kinder büßen, dass ihre Eltern nicht
den Bürgermut aufbringen, ihnen beizustehen, wenn sie seelisch verletzt
werden. Alle sind daran beteiligt, dass der Oberstudienrat die Grundrechte
außer Kraft setzen darf. Denn: „Am Unrecht ist nicht nur der
schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert“
(Erich Kästner).
„Was bist du für ein Langweiler!“ Stefan verfolgten
die Beleidigungen bis in den Schlaf, er klagte über Bauchweh. Der
seelische Schmerz verwandelte sich in körperlichen
Schmerz. Die Demütigung griff die Gesundheit an. Stefans Mutter fürchtete
sich vor dem Lehrer. Aber ihr Mitleid wurde zur moralischen Kraft. Sie
ging mit ihrer Angst in die Sprechstunde, griff den Lehrer nicht
an, sondern ließ sich erkennen: Mit ihrem Kummer und der Not des
Jungen, den Zeichen seines Körpers. Sie sagte, wie kränkend
sie es finde, das Kind bloß zu stellen und bat ihn, das nicht mehr
zu tun. Frau S. nahm sich fest vor, sich nicht auf Überzeugungs-Machtkämpfe
einzulassen, sondern dem Lehrer eindringlich mitzuteilen, in welche Not
er ihren Jungen stürzte – und sie selbst.
Das Gespräch verlief anders als die Mutter befürchtete. Zwar
verteidigte sich der Lehrer: der Junge sähe das zu dramatisch und
wäre überempfindlich. Es schien allerdings, als schreckte die
Mutter den Lehrer aus seiner Gleichgültigkeit auf. Vielleicht kam
doch Scham in ihm auf über sein unanständiges Verhalten; denn
er demütigte Stefan nicht mehr. Der schwierige Lehrer kann nicht
seinen Charakter verändern; aber zivilcouragierte Eltern können
verhindern, ihn seine Charakterstörung an machtlosen Kindern ausleben
zu lassen. Wir bräuchten viele couragierte Mütter wie,
die mit sozialem Mut Einspruch erheben, wenn „Einzelfälle“
Kinder seelisch verletzen und deren Lernbereitschaft und Leistungsfähigkeit
beschädigen. Die Mutter überwand die Konfliktscheu, für
das Gute einzutreten. Der Pfarrer und Lyriker Kurt Marti zählt solche
Zivilcourage bereits zu den Wundern:
gegen den strom
ist einer
nicht schon
auf wasser gegangen?
das macht ihm
keiner nach
jedoch
dass du
eine nicht-schwimmerin
gegen den strom schwimmst
ist kein geringeres wunder
Anregung zur Selbstwahrnehmung
-
Wo haben Sie das kleine „Wunder“ vollbracht,
gegen den Strom zu schwimmen? Und was gab Ihnen dazu die Kraft dazu?
-
Ist Ihnen die Schwierigkeit mit der von Ingeborg Bachmann so benannten
„Tapferkeit vor dem Freund“ bekannt? In welchen Situationen?
-
Rousseau sieht eine besondere menschliche Eigenschaft darin, mitfühlen
und mitleiden zu können. Wo erleben Sie „Mitleid“
nach seiner Definition: als den eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen
leiden zu sehen“?
-
Kommt es vor, dass Sie aus Furcht vor dem Alleinstehen entgegen
Ihrem Selbstbild handeln und Werte außer Kraft setzen, die Ihnen
etwas bedeuten? Wie können Sie Ihr Wertbewusstsein festigen?
-
Kennen Sie Situationen, in denen Sie gehorsam sind, obwohl Sie eigentlich
eigenständig handeln möchten: im Alltag, am Arbeitsplatz,
in der Ehe- oder Partnerbeziehung, in Autoritätsverhältnissen?
Wo sehen Sie da die Ursachen Ihrer Gehorsamsbereitschaft, und wie
gelingt es Ihnen, sich mit Ihrem Selbstbild auszusöhnen?
-
„Gehorsam“ ist ein schwieriges Problem in der Erziehung.
Wie geht es Ihnen damit bei den eigenen Kindern oder als Lehrer und
Erzieherin?
-
Wie erlebten Sie das mit dem Gehorchen in Ihrer eigenen Kindheit?
Lernen Kinder und Jugendliche in der Schule Zivilcourage?
Je nachdem, wie Schule die Heranwachsenden darin unterstützt, eigenständig
zu sein, wird eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von sozialem
Mut gelegt. Der Unterricht kann das Selbstwertgefühl von Kindern
verunsichern oder festigen. Manchmal beschädigen
Lehrerinnen und Lehrer das Selbstwertgefühl: durch Kleinmachen, Auslachen,
Beleidigen, Herabsetzen, ironische Bemerkungen, Notendruck, überfallartige
Kurzprüfungen, Demütigen an der Tafel, korrekte schlechte Zensuren,
machtbehauptende Disziplinierung. Damit untergraben sie eine wichtige
Voraussetzung für Bürgermut: die Identität, in der Jugendliche
ihr wahres Selbst erleben: Wer bin ich? Häufig werden sie nicht so
akzeptiert sie sind, sondern nur daran gemessen, wie sie sein
sollen. Weil ihre Eigen-Art, ihre Individualität wenig geachtet wird,
lernen sie nicht selbst-bewusst zu handeln, sondern passen sich an.
Kritik ist oft unerwünscht, wenn sie sich gegen Lehrer und Lehrplan
richtet. Die Jugendlichen dürfen nicht „aus der Reihe tanzen“,
sie sollen in Rede und Aufsatz das wiedergeben, was im Lehrplan
erwartet wird. Manchmal steht unter der Arbeit: „Thema verfehlt,
Note 6!“ Dabei hat das Kind vermutlich sein Thema gefunden,
in Wirklichkeit hat der Lehrer das Thema verfehlt: Er fand nicht
heraus, was das Thema der Schüler ist, zu dem diese etwas zu sagen
haben. Im gebundenen Aufsatzunterricht äußern die
Schüler ihre Meinung oft deshalb nicht, weil sie sich um der Note
willen darauf konzentrieren, das zu schreiben, was vermutlich gut ankommt.
Mit der Zeit wissen sie dann nicht mehr, dass sie eine eigene
Meinung haben. Unterricht wird für sie eine Schule der Anpassung,
ihre eigene Denk-Bewegung wird behindert.
Vor allem die zersetzende Zensurengebung blockiert das freie Wort. Was
Kinder und Jugendliche tun, muss von Lehrern in einem fort bewertet werden,
die Schüler werden zu bewerteten Menschen – und oft zu
entwerteten. Um nicht entwertet zu werden, neigen Schülerinnen
und Schüler dazu, sich in ihrem Verhalten und Denken anzupassen.
So können sie zu Schweigern, Mitläufern oder gar Duckmäusern
werden. Manche fühlen sich ohnmächtig wie Susanna Tamaro: „Für
mich war die Schulzeit die schlimmste Zeit meines Lebens, wegen des ständigen
Gefühls der Ohnmacht. Ich war unbändig hin- und hergerissen
zwischen dem Willen, dem treu zu bleiben, was ich in mir fühlte und
dachte, und dem Zwang, das zu erfüllen, was von mir erwartet wurde.“
Dabei müsste die Schule nicht ohnmächtig machen.
Sie kann sozialen Mut fördern: durch freien Unterricht,
durch praktisches Lernen, durch Projektunterricht und freien Aufsatz,
durch Partner- und Gruppenarbeit, durch Kreisgespräch und Diskussion,
durch individuelle Herausforderung. Kinder und Jugendliche sollten von
früh an Einfluss nehmen und etwas bewirken können.
Einen Großteil ihres Lebens verbringen sie in der Schule. Deshalb
muss hier ein Ort sein, Mitsprache einzuüben. Nur wenn Schülerinnen
und Schüler mitentscheiden dürfen, fühlen sie sich später
der Politik gegenüber nicht ohnmächtig: Mitbestimmen überall
dort, wo es um ihr Lernen und Leben geht, bei den Formen des Unterrichts,
den Lerninhalten, den Regeln des Zusammenlebens, der echten Mitbestimmung
in der Schülermitverwaltung. Oft bietet man ihnen aber lediglich
Demokratie-Spielereien an, statt wahrer Mitverantwortung. Nur wenn die
Schülerinnen und Schüler als Betroffene auch den Schulalltag
und Unterricht mit gestalten dürfen, werden sie von Betroffenen zu
Beteiligten, die sich später für eine menschlichere Politik
einsetzen. Heute ist jedoch in viele Schulen noch kaum ein Hauch von Demokratie
eingedrungen. Wo es aber um die Demokratie schlecht bestellt
ist, sind auch die Menschenrechte in Gefahr. Und wo Menschenrechte
verletzt werden, kann Demokratie nicht gedeihen.
Sich Sachverständnis aneignen und den argumentativen Widerspruch
üben
Wer sachkundig ist, stärkt sein Selbstbewusstsein. Die fachliche
Kompetenz ist zugleich eine Gegenkraft zur Angst; wir können mit
guten Argumenten eingreifen und uns wehren. Wir brauchen Sachkenntnis
überall dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen betroffen
sind, an denen wir etwas verändern wollen.Wie notwendig Sachkenntnis
zu politischer Mitsprache wäre, zeigt sich am Beispiel der Politiker-Reaktion
und vieler Bürgermeinungen zur PISA Studie. Ich gewinne den Eindruck,
hier handelt es sich um eine schwere Lernstörung aller, die für
die Gestalt der Schule verantwortlich sind, denn es geschieht genau das
Gegenteil von dem, was die Leistungsstudie nahe legt.
PISA zeigt auf: In vielen Ländern, deren Schüler besonders
gute Leistungen aufweisen, werden die Kinder nicht benotet. Bis
zur 6. oder 8. oder gar 10. Klasse lernen sie ohne Zensuren, in Finnland
und anderen Ländern zum Beispiel. Pädagogisch gesehen ist diese
gesteigerte Leistungsfähigkeit logisch: Die Kinder werden umfassend
wahrgenommen. Das Klima zugewandter Aufmerksamkeit ihrer Lehrer stärkt
ihr Ich. Sie bekommen nicht eine so primitive Antwort auf ihre
Arbeiten wie das die Noten 1 – 6 sind. Statt dessen erhalten sie
fortlaufend genaue und verständliche Informationen darüber,
was sie gut können, wo sie Schwächen haben, wie sie die Mängel
überwinden können.
In Schulen ohne Noten lernen Schüler nicht nur lieber, sondern
auch besser“, ist die vernünftige Erkenntnis. Das lerngestörte
Verhalten von Schulpolitikern und Bürgern besteht darin, dass sie
ohne pädagogische Vernunft handeln. Sie denken nicht einmal in der
Grundschule daran, die Ziffernnoten abzuschaffen, im Gegenteil:
einige meinen gar, bereits in der ersten Klasse solle man die Ziffernnoten
wieder einführen. Und es erhebt sich keine Woge des Elternprotestes,
weil sich Eltern nicht sachverständig machen. Ich spreche von den
Eltern, weil nur die Millionen Eltern politische Macht hätten. Wenn
sie sich nur geringfügige Sachkenntnis aneigneten und ihre Mitfühlfähigkeit
gegenüber ihren Kindern bewahrten, könnten sie erkennen: Kinder
werden leistungsfähiger durch die Abschaffung der Zensuren.
Also müssten wir auf Grund psychologischer Sachkenntnis einmischen
für ein besseres Lernen und freundlicheres Leben der Kinder und von
uns selbst. Da gibt es kein „Sitzen-Bleiben“; denn Kinder
werden nicht sitzen gelassen , sondern aufgefangen und gehalten.
Bei uns aber steht im Zwischenzeugnis von Marie: „Vorrücken
gefährdet.“ Dem Mädchen ist der Doppelsinn seiner Aussage
nicht bewusst, als es ängstlich sagt: „Ich bin gefährdet,
vielleicht muss ich sitzen bleiben.“ - „Ich bin gefährdet.“
Ein staatlicher Bildungsberater will Mutter und Kind beschwichtigen, er
sagt gönnerhaft: „Aber das Zeugnis mit dem Vermerk ‚Gefährdet’
ist doch nur ein Warnschuss.“ Erstaunlich, wie unbekümmert
hier ein kriegerischer Wortschatz benutzt wird. „Ein Warnschuss“:
Sind wir denn im Krieg, dass Kinder mit Schüssen gewarnt werden?
Es scheint so: Lehrer müssen mit gerechten schlechten Noten
Kinder wie Marie gefährden.
Das müssen sie nicht in vielen anderen Ländern, in denen Kinder
keine Noten und kein Sitzen-Bleiben und kein Ausgelesen-Werden kennen
und doch gute Leistungen haben. Das müssten sie auch bei uns nicht,
wenn Eltern wahr nähmen, was das Schulsystem ihren Kindern antut:
mit der ständigen Benotung, der unbarmherzig frühen Auslese,
mit der Annahme alle könnten das gleiche lernen, mit dem 45-Minuten-Takt,
dem ständigen Testen, Prüfen, Abfragen, Ausfragen, den viel
zu großen Schulklassen und pädagogisch kaum ausgebildeten Lehrern,
der Gleichgültigkeit den Schwachen gegenüber, so lange Eltern
sich nicht sachverständig machen und gegen diese unpädagogische
Schule eine pädagogische fordern und durchsetzen, wird die Würde
der Schüler missachtet und die Leistungsfähigkeit der Kinder
geschwächt.
„Politik als praktizierte Sittlichkeit“
Um eine humane und lernwirksame Schule zu schaffen bräuchten wir
den zivilen Mut und pädagogischen Sachverstand vieler Bürger,
die durch Bürger-Politik die Politiker-Politik
verbessern. Vom Machtprinzip erfüllte Politiker können
nirgends Frieden machen. Sie müssen immerfort rivalisieren, Andersdenkende
diffamieren, Wahlschlachten bestreiten. Für eine ökologische
Friedenspolitik auf allen Ebenen der Gesellschaft bräuchten
wir Volksvertreter, die nicht auf die macht-orientierte Politikerkarriere
eingefahren sind, sondern durch ihren Sachverstand, ihre Persönlichkeit
und ihr Berührt-Sein von menschlichen Problemen etwas bewirken.
Manche Politiker lachen auch dann noch, wenn es zum Weinen ist: Ihre wahren
Gefühle spüren sie nicht, oder verleugnen sie hinter gefühlloser
Fassade. Günter Grass:
Am Ende, als es nichts mehr zu lachen gab,
retteten sich die Politiker in übereinstimmendes Grinsen.
Ohne Motiv, denn Komisches lag nicht vor, begannen sie, weltweit
zu feixen.
Einbrüche in beherrschte Gesichtszüge.
Kein verlegenes Lächeln. Finales Grimassieren nur noch.
Man hielt das dennoch für Heiterkeit und fotografierte
das Grinsen und Feixen der übereinstimmenden Politiker.
Fotos vom letzten Gipfeltreffen waren Zeugnisse ansteckend guter
Laune.
Sie werden schon Gründe haben, den Ernst entgleisen zu lassen,
sagte man sich.
Da bis zum Schluss getagt wurde, hielt sich Humor bis zum Schluss.
Ein Vorbild für Zivilcourage, der tschechische Schriftsteller
und frühere Präsident Václav Havel, wendet sich speziell
an uns: Gerade jene Menschen, die sich nicht für die Politik
geeignet finden, sollten sich ihrer annehmen: „Wenn jemand
bescheiden ist und nicht nach Macht strebt, ist er nicht etwa ungeeignet,
sich der Politik zu widmen, sondern gehört im Gegenteil in sie hinein.
Es stimmt nicht, dass ein Politiker notwendigerweise intrigieren muss.
Die Voraussetzung für Politik ist nicht die Fähigkeit zu lügen.
In der Politik können nicht nur gefühllose Zyniker bestehen.
Diese alle, das ist wahr, zieht Politik an. Aber letztlich muss sich menschliche
Politik durchsetzen: Politik als praktizierte Sittlichkeit.“ Wenn
sich auf vielen Feldern der Gesellschaft an der Würde des Menschen
orientierte Bürger für mehr Humanität einmischten, könnte
die Expertin für Bio-Ethik, Christine von Weizsäcker ihre Befürchtung
vielleicht mildern. Sie äußerte die bedrückende Vorstellung,
das Experiment eines Nervenforschers könnte symbolisch für die
menschliche Gesellschaft sein:
„Der Forscher untersuchte das Schwarmverhalten von Fischen.
Dazu nahm er aus einem Fischschwarm einen Fisch heraus und unterbrach
in dessen Kopf die Verbindung zum Großhirn. Er wollte sehen, ob
der gehirn-amputierte Fisch sich noch im Schwarm halten kann. Was geschah?
Dieser Fisch, frei von Mitwelt-Wahrnehmung, ohne Rücksicht und Vorsicht,
schwamm ungebremst ziellos in schnellem Zickzack umher – und: der
ganze Schwarm folgte ihm! Das unvernünftige Verhalten des hirnlosen
Fisches machte, so könnte man denken, auf den Schwarm den Eindruck,
er wisse, wo’s lang geht. Wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue,
schreibt Christine von Weizsäcker, kommt mir immer häufiger
der Verdacht, die Mehrheit folgt denen mit amputierter eingeschränkter
Wahrnehmung.“
Aus der Herden-Konformität heraustreten
Wir brauchen Menschen, die nicht in der Herde denen mit eingeschränkter
Wahrnehmung folgen, sondern aus der Herden-Konformität heraustreten
und Gehorsam verweigern; ohne Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt. Erich
Fried bewies Ungehorsam bereits als Sechsjähriger. 1927 griff die
Polizei in Wien demonstrierende Arbeiter an. Ein Polizist und 86 Arbeiter
wurden dabei getötet.
Erich Fried schreibt: „An dem Tag war meine Mutter mit mir in
die Innere Stadt gegangen. Weil die Straßen seit Anfang der Demonstration
nicht passierbar waren, suchten wir in einem Laden Zuflucht. Durch das
Schaufenster sah ich Bahren mit toten und verwundeten Arbeitern. Kurz
darauf ließ der Schriftsteller Karl Kraus große Plakate anschlagen,
gerichtet an den Polizeipräsidenten, der war für das Massaker
verantwortlich: ‚Ich fordere Sie auf, abzutreten.’ Natürlich
war der Blutige Freitag wochenlang Gesprächsthema. Es war mein erstes
Schuljahr. Ich sollte zu Weihnachten im Festsaal unserer Schule ein Gedicht
aufsagen. Als ich auf der Bühne stand, hörte ich jemand sagen:
‚Der Polizeipräsident ist unter den Gästen.’ Also
trat ich vor, verbeugte mich und sagte in meiner besten Redemanier: ‚Meine
Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen.
Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Schober ist unter
den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt
und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, ich kann vor Herrn
Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.’ - Nochmals verbeugte ich
mich und trat zurück. Der Polizeipräsident sprang auf und verließ
den Saal. Ich trat wieder vor und sagte: ‚Jetzt kann ich mein Weihnachtsgedicht
aufsagen.’
Ich deklamierte es mit all dem Pathos, das man mir beigebracht hatte.
Großer Applaus. Mein Lehrer wartete schon auf mich. Er umarmte mich:
‚Das ist ja großartig, Erich!“ - Mein Vater grollte:
‚Ich dulde das nicht. Der Junge schwimmt mir in kommunistischem
Fahrwasser!’ Ich hatte keine Ahnung, was das hieß, aber da
mein Vater, der auch gegen meine schauspielerische Betätigung gewesen
war, es so ablehnend sagte, musste es grundsätzlich etwas Gutes sein,
folgerte ich.“
Die Freiheit, den Mund aufzumachen
Erich Fried zeigte während seines ganzen Lebens sozialen Mut: in
seiner politisch und gesellschaftlich engagierten Lyrik, in Erzählungen
und Essays. Er mischte sich politisch gegen den Vietnam-Krieg ein, gegen
die atomare Bedrohung, für demokratische Grundrechte. Während
des Exils in London half er Flüchtlingen, die Deutschland verlassen
mussten. Einer seiner Gedichtbände trägt den Titel: „Die
Freiheit, den Mund aufzumachen.“
Die Freiheit, den Mund aufzumachen, kann helfen, den Alltag
menschlicher zu gestalten. In unserer Gegenwart muss jedoch jede Überlegung
die Frage einschließen: Wie können wir das Leben auf
der Erde bewahren? Der Historiker Paul Kennedy meint: „Die globale
Gesellschaft befindet sich in einem Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe.
Die Kräfte des Wandels sind so weitreichend, dass sie nichts Geringeres
als eine Neu-Erziehung der Menschheit erfordern.“ Für eine
Neu-Erziehung der Menschheit muss „Politik“ vor allem bedeuten:
„Frieden machen“. Denn die Welt bedarf des Friedens, wenn
sie sich nicht selbst zerstören soll. An diesem Wandel des Bewusstseins
können wir mitarbeiten: die Bewegung auf die Katastrophe hin wahrnehmen,
den Schrecken nicht verdrängen, und sich mit sozialem Mut einmischen.
Kann Zivilcourage Berge versetzen? Ich antworte mit Erich Kästner:
Die Erde soll früher einmal
ein Paradies gewesen sein.
Möglich ist alles.
Die Erde könnte wieder
ein Paradies werden.
Alles ist möglich.
Oder?
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