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Prof. Dr. Kurt Singer

Vortrag am Dienstag, 13. Mai 2003 in Ansbach, 19.30 Uhr

Bürgerbewegung für Menschenwürde in Mittelfranken e.V.

Gruppe Ansbach Stadt und Land

Zivilcourage wagen – Eine demokratische Tugend entdecken

Bürgermut im Alltag: Eingreifen statt Wegschauen - Die eigene Meinung sagen –
Sozialen Mut lernen – Ohne Ungehorsam kein Fortschritt

Ich spreche zu Ihnen über Zivilcourage: über den sozialen Mut, für Menschenwürde einzutreten. Wer sich für Humanität im Alltag und für eine „bessere Welt“ einsetzt, braucht Bürgermut. Aber wer kennt das nicht: sich hinter her zu ärgern, weil im entscheidenden Augenblick der Mut zum Widerspruch fehlte? Weil einem die richtigen Worte nicht einfielen? Weil man fürchtete, Offenheit könne schaden? Weil man zögerte, einzugreifen? – Manche Menschen würden sich gern einmischen: am Arbeitsplatz, auf der Straße, in der Gemeinde, der Schule, in einer Partei oder Bürgerinitiative... Es ängstigt jedoch, gegen den Strom zu schwimmen, deshalb schauen sie lieber weg, schweigen, oder passen sich an; das macht sie unzufrieden mit sich selbst.

Ich möchte Sie mit meinem Vortrag nicht belehren, ich würde Sie gern berühren: an den Punkten, an denen Sie das Thema bewegt, wann Sie gern mehr Mut hätten, wo Sie der Anpassung widerstehen möchten. Fragen sind: Traue ich mir die eigene Meinung zu sagen, auch wenn diese anderen missfällt? – Muss ich mir alles gefallen lassen, weil ich abhängig bin? – Bleibe ich den moralischen Grundwerten treu, von denen ich überzeugt bin? – Riskiere ich in ängstigenden Situationen, helfend einzugreifen, statt wegzuschauen? – Kann ich trotz meiner Autoritätsangst gegenüber Vorgesetzten zu meiner Überzeugung stehen?

Großer Mut zum kleinen Widerstand – Sophie wagt Zivilcourage

Zivilcourage, den großen Mut zu kleinen Taten, wagte Sophie bereits mit neun Jahren.

Ihre Eltern sahen Widerspruchsmut als Tugend an und unterstützten das Mädchen im Nein-Sagen. Sophie ging mit ihrer Schwester Elisabeth in die gleiche Klasse. Ihr Lehrer versetzte die Schüler willkürlich auf bestimmte Plätze – und zwar den Leistungen entsprechend. Dabei wurde Sophies Schwester Elisabeth ausgerechnet an ihrem Geburtstag einen Platz heruntergestuft. Der Lehrer setzte das Mädchen zur Strafe in die letzte Bank. Diese Demütigung empörte Sophie. Sie stand auf, ging festen Schrittes zum Lehrer vor und protestierte: „Meine Schwester Elisabeth hat heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!“ Sie fasste ihre Schwester entschlossen beim Arm und führte sie an den alten Platz. Der Lehrer ließ es erstaunt geschehen. Das Mädchen zeigte Zivilcourage.

  • Nein sagen zum Unrecht, auch wenn das Unrecht „von oben“ kommt.

  • Nicht schweigen, wenn ein anderer Mensch gedemütigt wird.

  • Mut zu Kritik finden.

  • Schwachen beistehen, wenn sie benachteiligt werden.

  • Eingreifen, wenn die Menschenwürde angetastet wird.

Wer Zivilcourage lernen will, kann sich durch Vorbilder bestärken lassen. Aus dem Mädchen Sophie, das dem Lehrer mutig widersprach, wurde die Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Sie riskierte ein Jahrzehnt später ihr Leben im Aufruhr gegen Hitler. In einem Flugblatt der Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“ schrieb sie: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt. Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“ – „Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen“: das ist ein zwingender Beweggrund für sozialen Mut.

Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen

Inge Aicher-Scholl erzählte über ihre Schwester: „Für Sophie war wichtig, auch im Kleinen zu helfen: Man darf nicht nur dagegen sein, sondern muss etwas tun und an der Zementmauer der Unmöglichkeit versuchen, kleine Möglichkeiten heraus zu schlagen.” Eine Stelle aus dem Jakobus-Brief galt ihr als Maxime: „Seid Täter des Wortes – nicht Hörer allein.”

Sophie war ein stilles, eher schüchternes Mädchen. Wie kann sie zu dieser Tapferkeit? Sie wuchs in einem toleranten Elternhaus auf. Die Meinung der Kinder wurde respektiert, auch wenn sie der elterlichen widersprach. Der Vater ermutigte dazu, nicht kritiklos hinzunehmen, was Erwachsene sagen. In der Familie wurde viel über Politik und Bücher gesprochen. „Die Gedanken sind frei!“ hörte Sophie vom Vater. Der verteidigte aufrecht seine kritische Meinung über die Nazis. Deshalb verhaftete ihn die Polizei mehrmals. Als er vier Monate eingesperrt wurde, stellte sich Sophie an Sommerabenden in die Nähe des Gefängnisses und spielte ihrem Vater auf der Flöte das Lied, das Symbol für beide war: „Die Gedanken sind frei.“

Mit zweiundzwanzig Jahren wurde Sophie hingerichtet. Sie hatte Flugblätter gegen den nationalsozialistischen Terror verteilt. Nach ihrer Verhaftung meinte sie, eine Gefängnisstrafe zu bekommen; aber der Gerichtshof verkündete das Todesurteil. Wir müssen uns der Grausamkeit bewusst werden: wie die Jugendliche den Hinrichtungsraum betritt, ihre Augen die Tötungsmaschine sehen, die Vorrichtung für das riesige Messer, das ihr Haupt abtrennen sollte, wie ihr Nacken nach unten gebeugt und frei gemacht wird für das fallende Beil.

Den Bruch mit der Gleichgültigkeit wagen

Heute setzen wir nicht unser Leben aufs Spiel, wenn wir politisch-moralischen Widerstand leisten, zum Beispiel gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak protestierten. Oder wenn wir gegen eine „Sicherheitspolitik“ demonstrieren, die durch militärische Rüstung die Welt unsicher macht. Aber bestraft werden können wir dennoch. Eine Lehrerin berührte es, wie bewegt ihre Schüler für den Frieden eintraten. Der Schülersprecher wollte gar eine Demonstration organisieren. Als er auf der Polizei des kleinen Ortes vorsprach, wies ihn ein Polizist ab: „Demonstration? So was gibt’s bei uns nicht, zum Demonstrieren kannst’ nach München fahr’n.“ Der Dreizehnjährige versuchte es beim Bürgermeister; der war überrascht und wusste nicht, wie so etwas geht. Aber die Ernsthaftigkeit des Schülers beeindruckte ihn, er informierte sich und half. Die Lehrerin unterstützte ihre Klasse, die Friedenskundgebung vorzubereiten. Sie wurde jedoch von der Schulbehörde gewarnt: sie verstieße gegen das Gesetz, wenn sie mit den Schülern demonstriere. Als Staatsdienerin müsse sie Neutralität wahren. Sie setzte dagegen: „Nein, wenn es um den Frieden geht, um die Menschenwürde und um die Zukunft der Kinder, bin ich nicht neutral.“

Der Friedenszug wurde ein bewegendes Ereignis; in der Geschichte dieses kleinen Ortes gab es noch nie eine Demonstration. Sogar die konservativen Bürger sympathisierten mit den zweihundert Kindern und Jugendlichen, die mit fantasiereichen Plakaten, Fahnen und Liedern durch den Ort zogen. Die Schüler baten Bürgermeister und Lehrerin – sie war die einzige Ungehorsame an der Schule –, eine Rede zu halten. Prompt wurde die Lehrerin dienstlich ermahnt und mit einer Disziplinarstrafe bedroht. - Angesichts solcher Einschüchterung fällt es manchen schwer, den Mantel der Gleichgültigkeit zu zerreißen. Fallen uns nicht leicht Gründe ein, den Widerspruch zu unterlassen?

Erich Fried: Gründe

Weil alles nicht hilft
Sie tun ja doch, was sie wollen

Weil ich mir nicht nochmals
die Finger verbrennen will

Weil man nur lachen wird:
Auf dich haben sie gewartet

Und warum immer ich?
Keiner wird es mir danken

Weil jedes Schlechte
vielleicht auch sein Gutes hat

Weil ich das lieber
Berufeneren überlasse

Weil man nie weiß
wie einem das schaden kann

Weil sich die Mühe nicht lohnt
weil sie alle das gar nicht wert sind

Immer ist es der „Bruch mit der Gleichgültigkeit“, den wir wagen müssen: den Bruch mit der Gleichgültigkeit angesichts einer gigantischen Zahl von Menschen-Vernichtungsmitteln, die für weltweit drohende Kriege bereit stehen; angesichts kapitalistischer Globalisierung, die Menschen in Not bringt; angesichts drohender Klima-Katastrophen, verseuchter Flüsse und Meere, verpesteter Luft... Der Bruch mit der Gleichgültigkeit aber auch angesichts einer gedemütigten Büroangestellten, die ihr Chef vor den andern spöttisch herabsetzte, oder des hilflosen Kindes, das vom Lehrer ausgelacht wird, oder zweier ausländischer Frauen, die beschimpft werden.

Die Angst, allein zu stehen

Frau W. schildert den Konflikt zwischen der Furcht, sich einzumischen und dem Wunsch, ihrer moralischen Empfindsamkeit zu folgen. Sie erzählt: „Ich stand vor der Kasse des Einkaufsmarkts, vor mir warteten zwei Türkinnen. Eine Kundin begann laut über ‚die Ausländer’ zu schimpfen: ‚Die Kanaken sollte man nach Hause schicken, sie nehmen uns die Arbeit weg, belagern unsere Wohnungen, und überhaupt, wie dreckig die sind...’ Ein Schwall entwertender Vorurteile brach sich Bahn. Andere Kunden nickten beifällig oder schwiegen.

Ich war innerlich empört, mir taten die Türkinnen leid. Aber die Angst, auch beschimpft zu werden, verschloss mir den Mund. Ich fürchtete, allein gegen alle da zu stehen. Zudem erkannte ich unter den Frauen Nachbarn; das ängstigte mich besonders. Ich wollte es nicht mit Leuten verderben, mit denen ich täglich zu tun habe. Aufgeregt zögerte ich, hörte mein Herz klopfen und spürte meinen trockenen Mund. Da fasste ich doch Mut und redete zaghaft dazwischen: ’Ich hab gute Erfahrungen mit Türken gemacht, das sind Menschen wie wir; ich finde es unrecht, sie zu beleidigen.’ – Erstauntes Schweigen; zwei stimmten mir durch Kopfnicken zu. Ich war froh, mich zu den Widerworten durchgerungen zu haben.“

Bedrohlich fand Frau W., dass sie sich von ihr näher stehenden Menschen mit ihrer Haltung erkennen lassen musste; damit setzte sie ihre Zugehörigkeit aufs Spiel: „Verscherze ich mir womöglich Sympathien?“ Die Angst, allein zu stehen, ist ein harter Prüfstein auf dem Weg zu Zivilcourage. Sie kann durch halt-gebende Gegenkräfte überwunden werden: durch das Erfüllt-Sein von Menschenrechten, einen starken Glauben, durch die Bindung an Vorbilder und das Vertrauen in die eigene Wirkungskraft.

Was ist Zivilcourage?

Bitte lesen Sie den Leitgedanken Nummer 1 und 2:

 

1. Bei Unrecht wegschauen ? - Persönliche Verantwortung für Menschenwürde übernehmen

Was gehen mich die anderen an? Misch dich nicht ein, es könnte dir schaden! Schau lieber nicht hin, sonst bekommst du Ärger. Lass die Finger weg, es bringt ja doch nichts! - Mit solchen Begründungen verbergen wir die Furcht vor verantwortungsbewusstem Widerspruch. Am meisten ängstigt es, allein zu stehen, wenn wir uns öffentlich einmischen. Sozialer Mut wächst aus der Selbstverpflichtung, das Rechte zu tun: keinem zu schaden und niemanden zu verletzen, sondern andern zu helfen und die eigene Würde zu wahren.

 

2. Was ist Zivilcourage? - Mit sozialem Mut die Angst überwinden und eingreifen

  • Zivilcourage ist der soziale Mut, die persönliche Meinung frei zu äußern, auch gegenüber der Obrigkeit und Mehrheit. Die Einmischung wird auch dann gewagt, wenn sie den Vorgesetzten, Regierenden oder der Umgebung missfällt.

  • Bürgermut beginnt damit, genau hinzusehen und wahrzunehmen, was wirklich ist: Statt wegschauen und das Unrecht in Schweigen hüllen.

  • Menschen mit zivilem Mut stehen zu ihrer Überzeugung, auch wenn ihnen ihr Einspruch Nachteile bringen mag.

  • Sich zivilcouragiert einmischen geschieht nicht privat, sondern öffentlich. Sie macht die Mitmenschen auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam.

  • Inhalte des sozialen Mutes sind Themen, die alle Bürger angehen; sie betreffen das Zusammenleben; deshalb sind sie politisch.

  • Zivilcourage ist gewaltfrei. Menschen mit sozialem Mut setzen sich „zivil” mit anderen auseinander, gewaltlos und ohne Macht auszuüben.

  • Sozialer Mut zeigt sich im Eintreten für Humanität: Dem Unrecht mit moralischem Einspruch begegnen, Mensch und Natur schützen, „Fremde“ und „Andere“ gelten lassen, die Würde des Menschen achten, Schwachen helfen, Demokratie wagen.

Politisch-moralischer Protest – Vermächtnis eines Physikers für eine bessere Welt

Mit sozialem Pflichtgefühl und mit persönlicher Leidenschaft schlossen sich mutige Menschen immer wieder zu Bürgerinitiativen zusammen und wirkten als Minderheit in die Mehrheit hinein. So wurde in Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie eingeleitet. Ein Wegbereiter war der durch die Tschernobyl-Katastrophe zu Tode erschrockene und dann unerschrockene Wladimir Tschernousenko. Er leitete die Aufräumarbeiten und erstellte einen Bericht über Tausende von Menschenleben, die der Reaktorunfall forderte, über Hunderttausende, die den mörderischen Strahlenfeldern ausgesetzt waren, und über politische Fehlentscheidungen, die ungezählte Menschen dem langsamen Strahlentod aussetzten. – Die Regierung weigerte sich, seinen Bericht zu veröffentlichen. Sie versuchte, den Atomforscher einzuschüchtern; aber der hielt an seiner wissenschaftlichen und humanen Überzeugung fest: die Atomkraft sei die lebensgefährlichste Umweltbedrohung unserer Zeit, militärisch und zivil.

Wegen seines Bürgermutes wurde Wladimir Tschernousenko aus dem Institut für Physik entlassen und lebte fortan in Deutschland. Wer den Mächtigen widerspricht, hat mit Nachteilen zu rechnen. Er muss mit sich selbst eins darüber werden, wie viel Benachteiligung er auf sich nehmen will, um sich nicht zu überfordern. Der Fünfzigjährige war selbst strahlenverseucht und wusste um seine begrenzte Lebenszeit. Diese widmete er der Aufgabe, den Betrug der Atomindustrie zu entlarven. Er setzte bis zuletzt sein Wissen, seine leidvolle Erfahrung und seine Menschenliebe ein. Inzwischen starb er an der Strahlenkrankheit. Selbst von Mitleid bewegt, ließ er immer wieder von der Katastrophe Betroffene zu Wort kommen: „Irgendwo im Himmel wurde ein Becher Gift ausgegossen. Es fiel wie schwarzer Regen auf die rauchende Stadt.“ – Wer hält jene zurück, die den Giftbecher ausgießen? Bertolt Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan“:

Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt seine Opfer
Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen.
Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen!
Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein
Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht
Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!

Bertolt Brecht

Findet die Menschheit durch Gehorsam ihr Ende? - Was lässt uns Stand halten?

Zeigen wir zu wenig Missfallen, wagen wir den Aufruhr nicht? Erich Fromm befürchtet, die Erde könnte am Gehorsam zu Grund gehen; er schreibt: „Im alttestamentlichen Bericht von Adam und Eva begann die Menschheit mit einem Akt des Ungehorsams. Damit mussten Menschen den Schritt in Unabhängigkeit und Freiheit tun. In der Epoche atomarer Drohung ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheit mit Akten des Gehorsams ihr Ende findet. Denn: Technisch leben wir im Atomzeitalter, aber emotional und moralisch leben wir in der Vorzeit.“ Ungehorsam könnte lebens-rettend sein.

Aber was hilft Menschen, aus der Reihe zu tanzen, Vorgesetzten zu widersprechen, den Mächtigen zu widerstehen, gegen die herrschende Politik aufzubegehren? Danach fragte ich mutige Bürger. Bei aller Vielfalt der Antworten trat ein leitendes Merkmal hervor: die überzeugte Orientierung an menschlichen Grundwerten: Zugewandte Wahrnehmung des Mitmenschen, Nächstenliebe, Ehrfurcht, Gerechtigkeit. Zivilcourage ist kein Verhalten, sondern eine Tugend. Aus humanen Wertvorstellungen erwächst die Kraft, sich für das Gute einzusetzen. Menschen mit sozialem Mut denken und fühlen sich in andere ein. Sie verwandeln ihr Mitleid in Zorn und Hilfsbereitschaft.

Für Jean-Jacques Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Dieser eingeborene Widerwille, einen Menschen leiden zu sehen, motiviert dazu, Autoritätsangst, Konfliktscheu und Anpassungsbereitschaft zu überwinden. Sozial mutige Bürger drücken ihre innere Einstellung oft so aus: „Ich spüre die Verantwortung, mich für das einzusetzen, was human ist, und was ich für gut und richtig halte. Ob ich tatsächlich etwas zum Besseren wenden kann, oder ob es mir überhaupt nicht gelingt, etwas zu verändern, weiß ich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten zu. Ich lasse nur eines nicht zu: dass es grundsätzlich keinen Sinn mache, das Gute anzustreben“ (Nach Václav Havel).

„Nicht um acht Millionen verkaufe ich meine Überzeugung“ – Ist Frau Kraus verrückt?

Mit dieser Einstellung entwickelte Hannelore Kraus Zivilcourage gegen Habgier und Größenwahn. Aus sozialen und Umweltgründen Gründen verhinderte sie in Frankfurt den Bau des höchsten Wolkenkratzers Europas. Dazu gründete sie eine Bürgerinitiative und verweigerte als Nachbarin dem 264 Meter hohen Bauvorhaben ihre Zustimmung. Die Bauherren boten ihr für die Unterschrift drei Millionen Mark, später gar acht Millionen. Stadträte und Baugesellschaft bedrängten, bedrohten und schikanierten sie. Sie sagte mir: „Dass ich auch für acht Millionen nicht unterschrieb, brachte die Banker zur Raserei. Sie konnten nicht begreifen, dass etwas nicht käuflich war. Aber ich verkaufe auch nicht um acht Millionen meine Überzeugung.“

Gilt so jemand in unserer Gesellschaft nicht als absonderlich? In meiner Umgebung erzählte ich, dass ich mit der couragierten Frau sprechen werde, um Beweggründe für ihren Widerspruchsmut zu erforschen. Da begegneten mir Zweifel: Hat die Frau bereits so viele Millionen? Will sie sich nur hervortun? Unterliegt sie einem Gerechtigkeitswahn? Schlägt sie das Achtmillionen-Angebot aus, weil sie psychisch krank ist? Leidet sie unter neurotischem Altruismus? Ist sie eine Querulantin?

Nichts von den Unterstellungen traf zu: Ich erlebe eine lebendige Frau mittleren Alters, spontan im Kontakt, weit gereist und gebildet, früher engagiert in der Entwicklungshilfe. Sie widerstand den mächtigen Bau-Herren, um das „Gutleut-Viertel“, zu erhalten. Den Menschen, die dort wohnen, fühlt sie sich verbunden. Ihr Widerstand galt dem kommerziellen Denken, das sich nicht an menschlichen Lebenswerten orientiert. Insofern war es zutreffend, wenn manche Leute sie für „verrückt“ hielten, nämlich „abgerückt“ von der Marketing-Gesellschaft, vom kapitalistischen Denken. In der wird alles mit Gewinn „vermarktet“, auch sich muss man bis zur Selbstausbeutung „gut verkaufen“.

Eine soziale Tugend gegen Habgier, Größenwahn und das Marketing-Prinzip

Ich fragte Frau Kraus nach ihrer Lebensgeschichte: ob ihre standhafte Haltung etwas mit ihrer Kindheit zu tun habe. Klar und bescheiden antwortete sie: „Stets das Rechte zu tun” wäre bei ihr zu Hause Leitsatz gewesen. Sie erzählte eine Begebenheit, die in der Familie als vorbildlich galt. Ihr Großvater war Werkmeister einer Heizungsfirma. Ein Kunde prozessierte, weil beim Bau einer Feuerungsanlage Fehler gemacht worden seien. Der Großvater musste die Anlage überprüfen. Dabei zeigte sich, dass falsch geplant wurde. Als er das dem Arbeitgeber mitteilte, beschwor ihn dieser, zu schweigen. Der Großvater weigerte sich, weil das „nicht anständig” sei. Da drohte man ihm mit Entlassung. Doch er stand unbeirrt zur Wahrheit.

Im aktuellen Konflikt zwischen den mächtigen Geldgebern und der nicht ohnmächtigen Frau Kraus stießen die von Erich Fromm beschriebenen Grundhaltungen menschlicher Existenz aufeinander: Haben oder Sein. Die Charakter-Orientierung des Habens konzentriert sich auf materiellen Besitz, auf Macht, Gewinnsucht, Aggressivität. Die Charakter-Orientierung des Seins hingegen gründet auf Anteilnahme, menschliches Wachstum, auf Solidarität und öffentliches Engagement. Die lebensleitende Frage „Haben oder Sein“ stellte sich Hannelore Kraus. Sie leistete Widerstand nach dem Lebensprinzip des Seins. – „Widerstand“, ein Gedicht von Remco Campert:

Widerstand fängt nicht mit großen Worten an
sondern mit kleinen Taten
wie der Sturm mit leisem Rascheln im Garten
wie breite Flüsse
mit einer kleinen Quelle
versteckt im Wald
wie Liebe mit einem Blick
einer Berührung
etwas das auffällt in der Stimme
sich selber eine Frage stellen
damit fängt Widerstand an
und dann einem andern die Frage stellen

Fragen zum eigenen Bürgermut

„Sich selber eine Frage stellen, damit fängt Widerstand an.“ Wie geht es Ihnen mit sozialem Mut? Ich möchte mit meinem Buch Leserinnen und Leser anregen, Ihre persönlichen Berührungspunkte zu finden und ich möchte Ihnen hierzu eine kleine Schnaufpause gönnen.

  • Was bewegt Sie am Thema Zivilcourage: in der Familie, der Partnerbeziehung, im Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten, zu Eltern und Lehrern, zu Freunden, zu Kindern und Jugendlichen, in der Schule, auf der Straße...?

  • Wie geht es Ihnen persönlich in Mut-Situationen: Trauen Sie sich, Ihre Meinung zu sagen? Wie ist es, wenn Sie Kritik oder Ablehnung befürchten? Wann gelingt es Ihnen, Ihre Überzeugung mitzuteilen, und in welchen Situationen fällt es Ihnen schwer?

  • Zur Zivilcourage gehört „sich wehren“, „eingreifen“, „sich für wertvolles Handeln einsetzen“. Was bewegt Sie derzeit unmittelbar? Wie ist es Ihnen in einer bestimmten Situation gelungen, sich zivilcouragiert einzumischen und sich über Ihren Mut zu freuen?

  • Passt auf Sie manchmal – wie auch auf mich – Karl Valentins Ausspruch: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut“? Weshalb haben Sie sich „nicht dürfen getraut“? Was hemmt Sie, so einzugreifen, wie Sie sich das wünschen?

  • Menschen sind unterschiedlich mutig. Jeder kann versuchen, sein persönliches Maß an sozialem Mut zu entwickeln, das ihn nicht überfordert, ihm nur so viel Benachteiligung auferlegt, wie er ertragen kann. Christa Wolf meint: „Wer sich in einer verkehrten Welt einrichtet, wird selbst verkehrt.“ Kennen Sie die Gefahr, sich in einer verkehrten Welt einzurichten und dabei selbst verkehrt zu werden – und wie entgehen Sie ihr?

Bitte denken Sie ein paar Minuten darüber nach, vielleicht mit Ihrer Nachbarin. In der Regelschule nennt man das „Schwätzen“, in den eher reformpädagogischen Schulen nennt man es Partnergespräch...

„Ich tue, was angeordnet wird“ - Der gefühlsblinde Gehorsam

Auf dem Weg zu Zivilcourage kann Gehorsam ein Hindernis sein. Gehorchen zählt zu den Grundtugenden menschlichen Zusammenlebens. Kinder müssen folgen, um ungefährdet heranwachsen und Selbstbestimmung entwickeln zu können. Die Gesellschaft braucht den Gehorsam, um das Zusammenleben zu regeln. Gehorsam wird gefährlich, wenn Autoritäten ihn fordern, ohne dass der Befehl hinterfragt werden darf. Die Gehorsamsexperimente von Milgram zeigten: 62 % der Versuchspersonen befolgten die Weisung einer wissenschaftlichen Autorität, anderen Menschen Schmerz zuzufügen. Sie bestraften einen vermeintlichen Schüler – in Wirklichkeit war es ein Schauspieler – mit bedrohlichen Elektroschocks bis zu 450 Volt, wenn er Fehler machte. „Viele gehorchten dem Versuchsleiter, gleichgültig, wie heftig das Opfer unter Schock auch fleht, gleichgültig, wie schmerzhaft die Schocks zu sein scheinen, gleichgültig, wie sehr die bestrafte Person darum bittet, erlöst zu werden. Die Studie zeigt die Bereitschaft, auf Befehl einer Autoritätsperson nahezu alles zu tun. Personen, die Unrecht begehen, sind oft nicht böse, sondern folgen in gefühlsblindem Gehorsam. „Todesarbeiter“ heißen in den USA die Henker. Präsident Bush befahl als Gouverneur extrem viele Hinrichtungen. Einer seiner Scharfrichter erklärt, wie es ist, Menschen auf dem elektrischen Stuhl zu töten:

„Eine Exekution ist etwas, das getan werden muss, und gute Leute, pflichtbewusste Leute, die an das amerikanische System glauben, sollten es tun. Es ist einfach ein Job, ich nehm' das nicht so persönlich. Es ist nicht so, dass ich gegen die zum Tode verurteilte Person etwas habe. Ich führe einfach aus, was mir aufgetragen wurde… Dabei kommt es unserem Team darauf an, ohne Gefühle vorzugehen. Die Hinrichtung wird in kleine Aufgaben unterteilt und ausführlich geprobt. Es ist ja doch etwas stressig, wenn man eine Person umbringt… Je weniger dir dabei durch den Kopf geht, desto besser. Mein Auftrag ist das rechte Bein. Ich roll' sein Hosenbein auf, lege die Elektrode an und schnalle das Bein mit einem Gurt fest. Es kann immer noch Komplikationen geben, wenn etwa der elektrische Strom zu stark eingestellt ist. Dann verbrennt der Körper des Verurteilten und den Zeugen wird vom Geruch des verbrannten Menschenfleisches übel. Aber das sind Anfängerprobleme, bei einem eingearbeiteten Team läuft alles wie am Schnürchen.“

  • „Ich habe nur meine Pflicht getan“, erklärte der KZ-Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, der Hunderttausende ermorden ließ.

  • „Wir haben unsere Pflicht getan, niemand kann uns etwas vorwerfen“, beteuerte das Lehrerkollegium eines Gymnasiums: Ein Schüler hatte sich von der Brücke in den Tod gestürzt, nachdem der Lehrer vor allen anderen bekannt gab, dass er sitzen bleiben muss.

  • „Ich habe pflichtgemäß und nach geltendem Recht gehandelt“, so begründete der Richter, dass er einen Achtzehnjährigen aufhängen ließ, weil dieser als Soldat drei Tage vor Kriegsende aus Angst davonlief.

  • „Ich tue, was vorgeschrieben ist“, sagte die Lehrerin, die ein intellektuell schwaches und menschlich vernachlässigtes Kind durch Fünfen und Sechsen ordnungsgemäß demütigt.

  • „Ich beuge mich aus Treue zur Partei dem Fraktionszwang“, beschönigt der Abgeordnete. Er stimmte gegen seine Überzeugung dem Bau eines Atomreaktors zu.

Durch Gehorsam kann Pflichterfüllung zur Unmoral werden. „Der Befehl ist zum gefährlichsten Element im Zusammenleben der Menschen geworden“, schreibt Elias Canetti. „Man muss den Mut haben, sich dem Befehl entgegen zu stellen und seine Herrschaft zu erschüttern.“

In militärischer Unterordnung aufgegebene Eigen-Bewegung

Beim Militär baut der Gehorsam auf der reflexartigen Befolgung von Befehlen auf. Der Soldat, der andere tötet und zum Krüppel macht, wird nicht von destruktiven Impulsen dazu veranlasst, sondern vom Prinzip absoluten Gehorsams. Dies wird im Interview mit dem Bomberkommandanten deutlich; er flog eine B-52, die jetzt Bomben über dem Irak ausstreute:

Reporterin: Captain Weiss, Sie sind Kommandant dieser B-52, was ist Ihre Aufgabe?

Captain: Die Bomben ins Ziel zu bringen und wieder nach Hause zu kommen natürlich.

Sie wissen, die Maschine wurde für atomare Waffen entwickelt, wir flogen einige Jahre mit diesen großen Koffern herum. Es zeigte sich aber, dass sie auch für konventionelle Aufgaben hervorragend ist. Wir bringen 150 Bomben unter, das entspricht einer Sprenglast von 45 Tonnen.

Reporterin: Was bombardieren Sie? Welche Art von Zielen?

Captain: Wir bombardieren die Ziele, die uns angegeben werden, wir tragen sie in unsere Karten ein, und tun die Arbeit, die unsere Befehle vorschreiben. Was das für Ziele sind, wir fliegen so hoch, dass wir sie nicht zu sehen kriegen. Wir erfahren über Funk, ob unsere Bomben ordnungsgemäß im Zielgebiet explodiert sind.

Reporterin: Kann es sein, dass sich unter Ihren Zielen auch zivile befunden haben?

Captain: Ich glaube nicht, dass man das noch trennen kann, wir bombardieren große Flächen.

Reporterin: Würden Sie zivile Ziele beunruhigen?

Captain: Ich habe nicht darüber nachgedacht, es ist nicht meine Sache, ich bin der Captain dieser B-52, der seine Arbeit macht. Es ist viel Routine.

Reporterin: Hatten Sie bei einem Ihrer Einsätze moralische Probleme?

Captain: Wir haben immer sehr aufgepasst, keinen Fehler zu machen. Wir sind, glaube ich, eine ziemlich gute Crew.

Militärischer Gehorsam lässt die persönliche Verantwortung verstummen.

Mit moralischer Überzeugung und emotionalem Beteiligt-Sein den Mächtigen widerstehen – „Ich hoffe, dass ich mich nie selber verrate“

Ich wende mich mit dem Problem autoritätshörigen Gehorsams und mutigen Ungehorsams einem Beispiel aus dem Alltag zu. Eine Jura-Studentin, Christine R., nahm die fremdenfeindliche Äußerung ihres Hochschullehrers nicht widerspruchslos hin. Der plädierte dafür, Ausländer, die in Deutschland gegen das Gesetz verstießen, für die gleiche Tat härter zu bestrafen als Deutsche. Denn, so meinte er, „diese Täter haben infolge der Gewöhnung an ihr heimatliches Strafniveau eine geringere Strafempfindlichkeit“. Christine R. widersprach dem Professor, obwohl sie sich von ihm prüfen lassen musste. Hundert andere Studenten im Hörsaal schwiegen. Sie aber empörte sich über die Un-Gerechtigkeit und kritisierte den Strafrechtsprofessor als „rassistisch“. Der drohte und forderte eine öffentliche Entschuldigung. Trotz zu erwartender Nachteile hielt Christine R. an ihrer aufrechten Haltung fest. Darauf verklagte sie der Hochschullehrer wegen Beleidigung. Das Landgericht wies jedoch die Klage zurück und gab der mutigen Bürgerin recht. Sie habe ihr demokratisches Grundrecht wahrgenommen.

Diese Studentin ließ ihr Selbstbild vom ungleich mächtigeren Universitätsprofessor nicht beschädigen und widerstand der Einschüchterung. Christine Roths Bürgermut enthielt noch eine spezielle Form der Zivilcourage. Ingeborg Bachmann nennt sie „Tapferkeit vor dem Freund“. Die Studentin hatte nämlich zu dem Professor eine wichtige Arbeitsbeziehung. Der schätzte sie wegen ihrer Klugheit und wollte sie als Assistentin haben. Durch den Widerspruch riskierte sie die Zugehörigkeit. „Tapferkeit vor dem Freund“ ist der soziale Mut, innerhalb der eigenen Gruppe eine gegenteilige Meinung zu vertreten, Widerspruch in der eigenen Partei zu wagen, im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, innerhalb Kirche, in der Schule. In ihrem Gedicht „Alle Tage“ schreibt Ingeborg Bachmann:

Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzone gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen
...
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtbeachtung
jeglichen Befehls.

Bei der „Nichtbeachtung jeglichen Befehls“ wirkte in Christine R. als Gegenkraft zur Angst eine ausgeprägte moralische Motivation: Sie trat für Gerechtigkeit ein. Aber auch emotionale Motive bewegten die junge Frau. Früh schon nahm sie sich in der Schule schwacher Mitschüler an. Aus ihrer Hilfsbereitschaft heraus hat sie ihren Kameradinnen in der Prüfungssituation „vorgesagt“ – und dafür die Note Sechs bekommen. „Ich hoffe, dass ich mich nie selber verrate“, sagte sie im Gespräch mit mir. Heute ist sie eine Rechtsanwältin, die sich auch der Schwachen annimmt.

Ist ziviler Mut lernbar? - Schritte zur Zivilcourage

Ja, wie jede Tugend. Ich möchte Sie dazu ermutigen.

Bitte lesen Sie in den Leitgedanken, Seite 2, Nummer 3

 

3. Sozialen Mut üben: großer Mut zu kleinen Taten

Die Angst annehmen – Angst ist eine Kraft

Mutig handeln bedeutet nicht, furchtlos zu sein. Nur wer seine Ängste zulässt, kann Mut entwickeln, sich mit der Angst einmischen und für gesellschaftliche Veränderungen eintreten. Angst verweist uns auf die Gefahr, der wir begegnen, und vor der wir uns schützen müssen. Deshalb ist es wichtig, angstfähig zu sein.

Sich Sachverständnis aneignen und den argumentativen Widerspruch üben

Sachkenntnis macht mitsprachefähig. Wer sachkundig ist, kann argumentieren und stärkt sein Selbstbewusstsein. Fachliche Kompetenz ist eine Gegenkraft zur Angst und eine Voraussetzung dafür, soziale Anliegen durchzusetzen. Wir brauchen Sachkenntnis dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen betroffen sind, an denen wir etwas verändern möchten.

Rückhalt in der Gruppe suchen - Zusammenarbeit vermindert die Furcht

Wer öffentlich widerspricht, kann von der Mehrheit isoliert werden. Deshalb ist es hilfreich, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren. Die Zugehörigkeit erleichtert es, für demokratische Grundwerte einzutreten. Der Zusammenhalt in der Gruppe richtet sich nicht gegen „Feinde”, sondern dient menschlichen Grundwerten, tritt für das Gute ein. Durch Kooperation wächst das Sachverständnis.

Sich mit Wertvorstellungen kenntlich machen - Der ethisch begründete Einspruch

Erkennen lassen, wie wir denken, für welche Werte wir uns einsetzen, statt anderen unsere Meinung aufzwingen zu wollen. Wir vertreten glaubwürdig die eigene Überzeugung und versuchen gleichzeitig, Andersdenkende zu verstehen. Dadurch gelingt es, Überzeugungs-Machtkämpfe zu vermeiden und sich zu verständigen.

Persönliche Gefühle einbeziehen – Mitfühlfähigkeit und Mitleid

Fürsorge und Verantwortungsgefühl für die Nächsten und für sich selbst, motivieren zu sozialem Mut. Aus dem Widerwillen, Mitmenschen leiden zu sehen, erwächst die Kraft, für das Gute einzutreten. Es ist hilfreich, nicht nur sachlich zu argumentieren, sondern sich auch mit dem persönlichen emotionalen Engagement begreifen zu lassen.

Halt gebende Ideen und Überzeugungen festigen – Moralische Gegenkräfte

Zum Schwierigsten in Zivilcourage-Situationen gehört die Gefahr, allein zu stehen. Um die Angst auszuhalten, müssen wir erfüllt sein vom Sinn unseres Engagements. Wir brauchen ethische und religiöse Wertvorstellungen, Vorbilder, denen wir folgen, Hoffnung und Zuversicht. Wie kann ich so handeln, dass ich mir selbst treu bleibe?

Sich gewaltlos auseinandersetzen – Bürgermut ist zivil

Gewaltfreies Eingreifen vermindert die Gefahr, dass sich Konflikte durch Gegenaggression verschärfen. Der Widerspruch geschieht argumentativ, nicht aggressiv. Gegner werden nicht zu Feinden gemacht. Gewaltfreiheit bezieht sich auch auf Gewalt durch verletzende Worte.

Kleine Schritte wagen - Sozialen Mut einüben

Wie jede Tugend erfordert Bürgermut fortgesetztes Üben: In Familie und Freundeskreis, der Schule, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit. Mit kleinen Mutproben beginnen: Sich mit der eigenen Meinung erkennen lassen, für die persönliche Überzeugung stehen, Einspruch erheben, wenn Unrecht geschieht. - Kleine Schritte verhindern, dass wir uns überfordern. Wir sollten unser persönliches Maß an Bürgermut herausfinden und die Gegenkräfte zur Angst stärken.

Das Gewissen warnt vor dem falschen Leben – Gewissenskrankheit nach Hiroshima

In Interviews sagten mir Menschen häufig, ihr sozialer Mut hinge mit dem Gewissen zusammen. Ihre „innere Stimme“ dränge sie zu tun, was sie für wertvoll halten. Muss ein Mensch gegen sein Gewissen handeln, kann er an Seele und Leib erkranken. Das zeigte sich an einem Piloten der Flugzeug-Besatzung, die Hiroshima mit der Atombombe zerstörte. Mayor Eatherly konnte die Untat nicht verarbeiten; sie überstieg seine moralische Fassungskraft. Noch Jahre nach dem Atombombenabwurf beunruhigten ihn qualvolle Ängste. In seinen Träumen sah er die verzerrten Gesichter der im Höllenfeuer von Hiroshima verbrennenden Menschen, die verwüstete Stadt, die verkohlten Leichen. Er steckte Geldscheine in Umschläge und sandte sie nach Hiroshima; in Briefen entschuldigte er sich. Schließlich versuchte er sich mit Schlafmitteln zu töten.

Nun beging Eatherly sonderbare Straftaten: Er fälschte Schecks über minimale Summen, verübte einen Raubüberfall, bei dem er nichts stahl. Er wollte sich erneut töten und schnitt sich die Pulsadern auf. Diagnose des Militär-Hospitals: „Patient von der Wirklichkeit zurückgezogen. Angstzustände, Gefühlsreaktionen abgestumpft, Wahnvorstellungen.“ – Die Gewissensqualen des Hiroshima-Piloten wurden von der Psychiatrie zu Abgestumpftheit erklärt.

Fortan nannte man ihn nicht mehr den „Helden von Hiroshima“, sondern den „verrückten Hiroshima-Piloten“. Er stemmte Türen von Postämtern auf, ohne in die Kasse zu greifen, überfiel einen Kassierer, ohne Geld zu rauben. Es schien, als müsste er seine Schuld durch Ersatzverbrechen beweisen. Eatherly erklärte sein Verhalten so: Er habe sich am Tag des Atombombenabwurfs entschlossen, sein Leben der Aufgabe zu weihen, für die Ächtung aller Atombomben zu kämpfen. „Die Schuld, die mit einem solchen Verbrechen verbunden ist, hat in meinem Geist und meinem Gemüt viel Verwirrung angerichtet. Beinahe acht Jahre verbrachte ich in Hospitälern und eine kurze Zeit in Gefängnissen. Ich war in Gefängnissen stets glücklicher, weil ich dadurch, dass ich bestraft wurde, die Schuld los werden konnte.“

Durch seine Gewissensqualen kritisierte Claude Eatherly das gesellschaftliche Gewissen. Er wurde als psychisch abnorm abgestempelt, obgleich sein Kranksein bezeugte, wie moralisch empfindsam er war. Konnte man von einem Soldaten erwarten, gleichgültig zu sein, nachdem er mitwirkte, hundertvierzigtausend Menschen zu töten? Unter denen, die die Massentötung von Hiroshima begingen, war ein anderer Pilot, den schienen keine Gewissensbedenken zu martern. Allerdings verübte er Selbstmord genau am Jahrestag des Atombombenabwurfs. Zufall, oder Ausdruck des selbstmörderischen Gehorsams-Wahnsinns unserer Epoche? – Noch weiß niemand, welche seelischen Beschädigungen Soldaten aus dem gegenwärtigen Krieg erleiden – Sieger wie Verlierer. Der todkrank vom Krieg heimgekehrte Wolfgang Borchert beschrieb diese Beschädigung:

Der Soldat
Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause
Aber er hatte kein Brot
da sah er einen, der hatte Brot
Den schlug er tot
Du darfst doch keinen tot schlagen, sagte der Richter
Warum nicht? sagte der Soldat

Ein Gleichnis auch dafür, was die Brutalisierung der amerikanischen Politik durch Präsident Busch für Folgen haben könnte?

Friedlosigkeit, eine seelische Krankheit - Den Frieden lernen

Überall auf der Welt werden Jugendliche Monate lang zum Kriegführen ausgebildet.

  • sie trainieren, wie man Mitmenschen tötet, die vorher zum „Feind“ erklärt wurden;

  • man macht sie bereit, auch das eigene Leben zu zerstören;

  • sie üben, wie man Menschen mit einer Maschinenpistole tod-sicher ins Herz trifft;

  • sie proben, tödliche Bomben mit Computerhilfe zielgenau abzuwerfen;

  • sie lernen Minen zu legen, die auch Kinder und Frauen zerfetzen oder verstümmeln

Diese Ausbildung ist erfolgreich. Viele meinen, Kriege seien gerecht oder unabwendbar. Der Philosoph und Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker sagt dagegen: „Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit. Denn „Friede ist Lebensbedingung des Atomzeitalters, wenn sich die Menschheit nicht vernichten soll.“ - Nicht nur dieser Krieg im Irak ist zu verhindern: der Krieg an sich muss als Konfliktregelung abgeschafft werden. „Falls wir nicht mit dem Siegen aufhören, siegen wir uns zu Tode“, erklärt in Christa Wolfs „Kassandra“ die Seherin dem Wagenlenker:

Kassandra: Ich sage ihnen: Wenn Ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese Eure Stadt bestehen.
W.: Gestatte eine Frage, Seherin - (sagt der Wagenlenker).
K.: Fragt!
W.: Du glaubst nicht daran?
K.: Woran?
W.: Dass wir zu siegen aufhören können?
K.: Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte.
W.: So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet,
der Untergang in unsere Natur gelegt?
K.: Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann. Komm näher, Wagenlenker. Hör zu.
Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles weiß. So mag es in
der Zukunft Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.

Kennen wir unsere Natur nicht? Wir könnten statt des Kriegführens das Friedenführen lernen, zum Beispiel:

  • Anstatt in „Geschichte“ viel von „Kriegen“ zu hören: Erfahrungen aufzeigen und studieren, in denen es geglückt ist, waffenlos Widerstand zu leisten.

  • Lernen, mit Gewalt umzugehen und sie zu verhindern, auch im Straßenverkehr.

  • Ideen erfinden, Krieg zu vermeiden; alle Erkenntnisse der Friedensforschung nutzen.

  • Üben, wie man miteinander streitet, ohne sich zu verletzen, auch im Parlament.

  • Lernen, aus dem Machtkampf auszusteigen und sich zu verständigen, auch in der Familie.

  • Üben, wie man Konflikte gewaltfrei regelt, auch in der Schule.

  • Lernen, zu demonstrieren, zu protestieren und gewaltfrei Widerstand zu leisten.

  • Erproben, wie sich Konfliktsituationen entspannen, wenn wir einseitig abrüsten.

All das ist so gut lernbar wie das Kriegshandwerk. Schulen, Universitäten, alle Bildungseinrichtungen sollten Friedens-Wissen vermitteln und friedliches Handeln einüben. Albert Einstein fragte den Begründer der Psychoanalyse, wie Krieg zu verhindern sei. Sigmund Freud antwortete: „Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluss des Destruktionstriebes ist, so liegt es nahe, den Gegenspieler des Destruktionstriebes anzurufen, nämlich die Liebe. Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen hervor ruft, muss dem Krieg entgegen wirken. Die Religion sagt das Gleiche: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Die Wiedererkennung des Menschen durch den Menschen

Gefühlsbindungen? Der französische Philosoph Alain Finkielkraut berichtet von einem Soldaten im ersten Weltkrieg: Lussu schlich auf allen Vieren an die feindliche Stellung heran. Er geriet an einen Ort, von dem aus er den gegnerischen Schützengraben genau beobachten konnte. „Ein seltsam vertrautes Bild bot sich seinem Blick dar. Das also war er, der Feind. Menschen und Soldaten wie wir, die aussahen wie wir, in Uniformen wie wir. Sie bewegten sich, redeten miteinander, genauso wie es unsere Kameraden taten. Seltsam!“

Aufgebrochen, um als Scharfschütze den Feind zu töten, stößt Emilio Lussu unversehens auf Soldaten, die ihm gleichen. Er sieht jene von nahem, die er von ferne bekämpfte. „Es stand ein Mensch vor mir. Ein Mensch! Ich sah deutlich seine Augen und jeden Zug seines Gesichts... Der Mensch dort ist kein Gegenstand in seiner Schussweite mehr, sondern bereits – der Nächste. Lussu nimmt den Finger vom tödlichen Abzug. Plötzlich hat ihn die Unruhe des Friedens ergriffen, die natürliche Sanftmut des Menschen. Diese macht ihn untauglich für seinen Beruf als Soldat: „Die Wiedererkennung des Menschen durch den Menschen.“

Persönlichkeitsrechte der Schüler schützen – „Das sind ja nur Einzelfälle“

Die „Wiedererkennung des Menschen durch den Menschen“ tut auch in der Schule not. Stefan fühlte sich von den geringschätzigen Worten des Lehrers verfolgt: „Deutsch wirst du nie lernen. Da sehe ich schwarz für dich.“ – „Wie dumm du dich wieder anstellst!“ – „Was hast du denn auf dem Gymnasium zu suchen? Du gehörst doch nicht hier her.“ Ausstoßende Worte drohen Kindern mit dem Verlust der Zugehörigkeit; sie wirken wie Gift: „Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut“, schreibt der Philosoph Victor Klemperer: „Sprache kann aus giftigen Elementen gebildet oder zu Trägern von Giftstoffen gemacht werden. Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Manche Menschen spüren lebenslang winzige Arsendosen, die man ihnen durch herabwürdigende Worte verabreichte. „Das sind ja nur Einzelfälle“, lautet der unbarmherzige Satz, mit denen Kinder den ausgeliefert werden.

Der Oberstudienrat liest bei jeder Aufsatznachbesprechung mangelhafte Arbeiten vor, ohne die Schüler um Erlaubnis zu bitten. Er sucht missglückte Sätze heraus und stellt Kinder bloß. Die Rückgabe der Arbeiten gleicht einem Schauprozess; sie geschieht in der Reihenfolge der Zensuren von sehr gut bis ungenügend, begleitet von ironischen Kommentaren: „Das war ja eine Glanzleistung.“ Das Abfragen für Noten nennen die Jugendlichen „Abfrage-Folter“. Der Lehrer sucht nicht nach dem Können, sondern nach dem, was die Schüler nicht können. Schwache lacht er hartherzig aus. – Der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, der seine 200 jüdischen Waisenkinder nicht verließ, sondern freiwillig mit ihnen in die Gaskammern des Konzentrationslagers schritt, obwohl er dem Tod hätte entgehen können, sagte: „Ein Kind auszulachen, ist ein Verbrechen.“ Dieses Verbrechen gehörte hier zum Alltag. Niemand klagte dieses Verbrechen an, obwohl seit dem Jahr 2000 in Deutschland ein Gesetz den Kindern gewaltfreie Erziehung garantiert und seelische Verletzungen unter Strafe stellt.

Eltern beschwerten sich, aber der Lehrer verteidigte sich: Auf dem Gymnasium gehe es nicht so sanft zu wie in der Grundschule. Die Schüler wären ihm dankbar, wenn er sie hart her nähme. Er pries seine Unbarmherzigkeit als Wohltat. Der Elternbeirat meinte, man dürfe sich nicht in den Unterricht einmischen. Dabei handelte es sich darum, die Würde der Schüler zu verteidigen. Lehrerkollegen verurteilten das bloßstellende Verhalten, aber schwiegen. Väter begründeten ihr Schweigen damit, der Lehrer ließe es die Schüler büßen, wenn sie sich beklagten. Nein: Die Kinder büßen, dass ihre Eltern nicht den Bürgermut aufbringen, ihnen beizustehen, wenn sie seelisch verletzt werden. Alle sind daran beteiligt, dass der Oberstudienrat die Grundrechte außer Kraft setzen darf. Denn: „Am Unrecht ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert“ (Erich Kästner).

„Was bist du für ein Langweiler!“ Stefan verfolgten die Beleidigungen bis in den Schlaf, er klagte über Bauchweh. Der seelische Schmerz verwandelte sich in körperlichen Schmerz. Die Demütigung griff die Gesundheit an. Stefans Mutter fürchtete sich vor dem Lehrer. Aber ihr Mitleid wurde zur moralischen Kraft. Sie ging mit ihrer Angst in die Sprechstunde, griff den Lehrer nicht an, sondern ließ sich erkennen: Mit ihrem Kummer und der Not des Jungen, den Zeichen seines Körpers. Sie sagte, wie kränkend sie es finde, das Kind bloß zu stellen und bat ihn, das nicht mehr zu tun. Frau S. nahm sich fest vor, sich nicht auf Überzeugungs-Machtkämpfe einzulassen, sondern dem Lehrer eindringlich mitzuteilen, in welche Not er ihren Jungen stürzte – und sie selbst.

Das Gespräch verlief anders als die Mutter befürchtete. Zwar verteidigte sich der Lehrer: der Junge sähe das zu dramatisch und wäre überempfindlich. Es schien allerdings, als schreckte die Mutter den Lehrer aus seiner Gleichgültigkeit auf. Vielleicht kam doch Scham in ihm auf über sein unanständiges Verhalten; denn er demütigte Stefan nicht mehr. Der schwierige Lehrer kann nicht seinen Charakter verändern; aber zivilcouragierte Eltern können verhindern, ihn seine Charakterstörung an machtlosen Kindern ausleben zu lassen. Wir bräuchten viele couragierte Mütter wie, die mit sozialem Mut Einspruch erheben, wenn „Einzelfälle“ Kinder seelisch verletzen und deren Lernbereitschaft und Leistungsfähigkeit beschädigen. Die Mutter überwand die Konfliktscheu, für das Gute einzutreten. Der Pfarrer und Lyriker Kurt Marti zählt solche Zivilcourage bereits zu den Wundern:

gegen den strom
ist einer
nicht schon
auf wasser gegangen?
das macht ihm
keiner nach
jedoch
dass du
eine nicht-schwimmerin
gegen den strom schwimmst
ist kein geringeres wunder

Anregung zur Selbstwahrnehmung

  • Wo haben Sie das kleine „Wunder“ vollbracht, gegen den Strom zu schwimmen? Und was gab Ihnen dazu die Kraft dazu?

  • Ist Ihnen die Schwierigkeit mit der von Ingeborg Bachmann so benannten „Tapferkeit vor dem Freund“ bekannt? In welchen Situationen?

  • Rousseau sieht eine besondere menschliche Eigenschaft darin, mitfühlen und mitleiden zu können. Wo erleben Sie „Mitleid“ nach seiner Definition: als den eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen“?

  • Kommt es vor, dass Sie aus Furcht vor dem Alleinstehen entgegen Ihrem Selbstbild handeln und Werte außer Kraft setzen, die Ihnen etwas bedeuten? Wie können Sie Ihr Wertbewusstsein festigen?

  • Kennen Sie Situationen, in denen Sie gehorsam sind, obwohl Sie eigentlich eigenständig handeln möchten: im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Ehe- oder Partnerbeziehung, in Autoritätsverhältnissen? Wo sehen Sie da die Ursachen Ihrer Gehorsamsbereitschaft, und wie gelingt es Ihnen, sich mit Ihrem Selbstbild auszusöhnen?

  • „Gehorsam“ ist ein schwieriges Problem in der Erziehung. Wie geht es Ihnen damit bei den eigenen Kindern oder als Lehrer und Erzieherin?

  • Wie erlebten Sie das mit dem Gehorchen in Ihrer eigenen Kindheit?

Lernen Kinder und Jugendliche in der Schule Zivilcourage?

Je nachdem, wie Schule die Heranwachsenden darin unterstützt, eigenständig zu sein, wird eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von sozialem Mut gelegt. Der Unterricht kann das Selbstwertgefühl von Kindern verunsichern oder festigen. Manchmal beschädigen Lehrerinnen und Lehrer das Selbstwertgefühl: durch Kleinmachen, Auslachen, Beleidigen, Herabsetzen, ironische Bemerkungen, Notendruck, überfallartige Kurzprüfungen, Demütigen an der Tafel, korrekte schlechte Zensuren, machtbehauptende Disziplinierung. Damit untergraben sie eine wichtige Voraussetzung für Bürgermut: die Identität, in der Jugendliche ihr wahres Selbst erleben: Wer bin ich? Häufig werden sie nicht so akzeptiert sie sind, sondern nur daran gemessen, wie sie sein sollen. Weil ihre Eigen-Art, ihre Individualität wenig geachtet wird, lernen sie nicht selbst-bewusst zu handeln, sondern passen sich an.

Kritik ist oft unerwünscht, wenn sie sich gegen Lehrer und Lehrplan richtet. Die Jugendlichen dürfen nicht „aus der Reihe tanzen“, sie sollen in Rede und Aufsatz das wiedergeben, was im Lehrplan erwartet wird. Manchmal steht unter der Arbeit: „Thema verfehlt, Note 6!“ Dabei hat das Kind vermutlich sein Thema gefunden, in Wirklichkeit hat der Lehrer das Thema verfehlt: Er fand nicht heraus, was das Thema der Schüler ist, zu dem diese etwas zu sagen haben. Im gebundenen Aufsatzunterricht äußern die Schüler ihre Meinung oft deshalb nicht, weil sie sich um der Note willen darauf konzentrieren, das zu schreiben, was vermutlich gut ankommt. Mit der Zeit wissen sie dann nicht mehr, dass sie eine eigene Meinung haben. Unterricht wird für sie eine Schule der Anpassung, ihre eigene Denk-Bewegung wird behindert.

Vor allem die zersetzende Zensurengebung blockiert das freie Wort. Was Kinder und Jugendliche tun, muss von Lehrern in einem fort bewertet werden, die Schüler werden zu bewerteten Menschen – und oft zu entwerteten. Um nicht entwertet zu werden, neigen Schülerinnen und Schüler dazu, sich in ihrem Verhalten und Denken anzupassen. So können sie zu Schweigern, Mitläufern oder gar Duckmäusern werden. Manche fühlen sich ohnmächtig wie Susanna Tamaro: „Für mich war die Schulzeit die schlimmste Zeit meines Lebens, wegen des ständigen Gefühls der Ohnmacht. Ich war unbändig hin- und hergerissen zwischen dem Willen, dem treu zu bleiben, was ich in mir fühlte und dachte, und dem Zwang, das zu erfüllen, was von mir erwartet wurde.“

Dabei müsste die Schule nicht ohnmächtig machen. Sie kann sozialen Mut fördern: durch freien Unterricht, durch praktisches Lernen, durch Projektunterricht und freien Aufsatz, durch Partner- und Gruppenarbeit, durch Kreisgespräch und Diskussion, durch individuelle Herausforderung. Kinder und Jugendliche sollten von früh an Einfluss nehmen und etwas bewirken können. Einen Großteil ihres Lebens verbringen sie in der Schule. Deshalb muss hier ein Ort sein, Mitsprache einzuüben. Nur wenn Schülerinnen und Schüler mitentscheiden dürfen, fühlen sie sich später der Politik gegenüber nicht ohnmächtig: Mitbestimmen überall dort, wo es um ihr Lernen und Leben geht, bei den Formen des Unterrichts, den Lerninhalten, den Regeln des Zusammenlebens, der echten Mitbestimmung in der Schülermitverwaltung. Oft bietet man ihnen aber lediglich Demokratie-Spielereien an, statt wahrer Mitverantwortung. Nur wenn die Schülerinnen und Schüler als Betroffene auch den Schulalltag und Unterricht mit gestalten dürfen, werden sie von Betroffenen zu Beteiligten, die sich später für eine menschlichere Politik einsetzen. Heute ist jedoch in viele Schulen noch kaum ein Hauch von Demokratie eingedrungen. Wo es aber um die Demokratie schlecht bestellt ist, sind auch die Menschenrechte in Gefahr. Und wo Menschenrechte verletzt werden, kann Demokratie nicht gedeihen.

Sich Sachverständnis aneignen und den argumentativen Widerspruch üben

Wer sachkundig ist, stärkt sein Selbstbewusstsein. Die fachliche Kompetenz ist zugleich eine Gegenkraft zur Angst; wir können mit guten Argumenten eingreifen und uns wehren. Wir brauchen Sachkenntnis überall dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen betroffen sind, an denen wir etwas verändern wollen.Wie notwendig Sachkenntnis zu politischer Mitsprache wäre, zeigt sich am Beispiel der Politiker-Reaktion und vieler Bürgermeinungen zur PISA Studie. Ich gewinne den Eindruck, hier handelt es sich um eine schwere Lernstörung aller, die für die Gestalt der Schule verantwortlich sind, denn es geschieht genau das Gegenteil von dem, was die Leistungsstudie nahe legt.

PISA zeigt auf: In vielen Ländern, deren Schüler besonders gute Leistungen aufweisen, werden die Kinder nicht benotet. Bis zur 6. oder 8. oder gar 10. Klasse lernen sie ohne Zensuren, in Finnland und anderen Ländern zum Beispiel. Pädagogisch gesehen ist diese gesteigerte Leistungsfähigkeit logisch: Die Kinder werden umfassend wahrgenommen. Das Klima zugewandter Aufmerksamkeit ihrer Lehrer stärkt ihr Ich. Sie bekommen nicht eine so primitive Antwort auf ihre Arbeiten wie das die Noten 1 – 6 sind. Statt dessen erhalten sie fortlaufend genaue und verständliche Informationen darüber, was sie gut können, wo sie Schwächen haben, wie sie die Mängel überwinden können.

In Schulen ohne Noten lernen Schüler nicht nur lieber, sondern auch besser“, ist die vernünftige Erkenntnis. Das lerngestörte Verhalten von Schulpolitikern und Bürgern besteht darin, dass sie ohne pädagogische Vernunft handeln. Sie denken nicht einmal in der Grundschule daran, die Ziffernnoten abzuschaffen, im Gegenteil: einige meinen gar, bereits in der ersten Klasse solle man die Ziffernnoten wieder einführen. Und es erhebt sich keine Woge des Elternprotestes, weil sich Eltern nicht sachverständig machen. Ich spreche von den Eltern, weil nur die Millionen Eltern politische Macht hätten. Wenn sie sich nur geringfügige Sachkenntnis aneigneten und ihre Mitfühlfähigkeit gegenüber ihren Kindern bewahrten, könnten sie erkennen: Kinder werden leistungsfähiger durch die Abschaffung der Zensuren. Also müssten wir auf Grund psychologischer Sachkenntnis einmischen für ein besseres Lernen und freundlicheres Leben der Kinder und von uns selbst. Da gibt es kein „Sitzen-Bleiben“; denn Kinder werden nicht sitzen gelassen , sondern aufgefangen und gehalten.

Bei uns aber steht im Zwischenzeugnis von Marie: „Vorrücken gefährdet.“ Dem Mädchen ist der Doppelsinn seiner Aussage nicht bewusst, als es ängstlich sagt: „Ich bin gefährdet, vielleicht muss ich sitzen bleiben.“ - „Ich bin gefährdet.“ Ein staatlicher Bildungsberater will Mutter und Kind beschwichtigen, er sagt gönnerhaft: „Aber das Zeugnis mit dem Vermerk ‚Gefährdet’ ist doch nur ein Warnschuss.“ Erstaunlich, wie unbekümmert hier ein kriegerischer Wortschatz benutzt wird. „Ein Warnschuss“: Sind wir denn im Krieg, dass Kinder mit Schüssen gewarnt werden? Es scheint so: Lehrer müssen mit gerechten schlechten Noten Kinder wie Marie gefährden.

Das müssen sie nicht in vielen anderen Ländern, in denen Kinder keine Noten und kein Sitzen-Bleiben und kein Ausgelesen-Werden kennen und doch gute Leistungen haben. Das müssten sie auch bei uns nicht, wenn Eltern wahr nähmen, was das Schulsystem ihren Kindern antut: mit der ständigen Benotung, der unbarmherzig frühen Auslese, mit der Annahme alle könnten das gleiche lernen, mit dem 45-Minuten-Takt, dem ständigen Testen, Prüfen, Abfragen, Ausfragen, den viel zu großen Schulklassen und pädagogisch kaum ausgebildeten Lehrern, der Gleichgültigkeit den Schwachen gegenüber, so lange Eltern sich nicht sachverständig machen und gegen diese unpädagogische Schule eine pädagogische fordern und durchsetzen, wird die Würde der Schüler missachtet und die Leistungsfähigkeit der Kinder geschwächt.

„Politik als praktizierte Sittlichkeit“

Um eine humane und lernwirksame Schule zu schaffen bräuchten wir den zivilen Mut und pädagogischen Sachverstand vieler Bürger, die durch Bürger-Politik die Politiker-Politik verbessern. Vom Machtprinzip erfüllte Politiker können nirgends Frieden machen. Sie müssen immerfort rivalisieren, Andersdenkende diffamieren, Wahlschlachten bestreiten. Für eine ökologische Friedenspolitik auf allen Ebenen der Gesellschaft bräuchten wir Volksvertreter, die nicht auf die macht-orientierte Politikerkarriere eingefahren sind, sondern durch ihren Sachverstand, ihre Persönlichkeit und ihr Berührt-Sein von menschlichen Problemen etwas bewirken. Manche Politiker lachen auch dann noch, wenn es zum Weinen ist: Ihre wahren Gefühle spüren sie nicht, oder verleugnen sie hinter gefühlloser Fassade. Günter Grass:

Am Ende, als es nichts mehr zu lachen gab,
retteten sich die Politiker in übereinstimmendes Grinsen.
Ohne Motiv, denn Komisches lag nicht vor, begannen sie, weltweit zu feixen.
Einbrüche in beherrschte Gesichtszüge.
Kein verlegenes Lächeln. Finales Grimassieren nur noch.
Man hielt das dennoch für Heiterkeit und fotografierte
das Grinsen und Feixen der übereinstimmenden Politiker.
Fotos vom letzten Gipfeltreffen waren Zeugnisse ansteckend guter Laune.
Sie werden schon Gründe haben, den Ernst entgleisen zu lassen, sagte man sich.
Da bis zum Schluss getagt wurde, hielt sich Humor bis zum Schluss.

Ein Vorbild für Zivilcourage, der tschechische Schriftsteller und frühere Präsident Václav Havel, wendet sich speziell an uns: Gerade jene Menschen, die sich nicht für die Politik geeignet finden, sollten sich ihrer annehmen: „Wenn jemand bescheiden ist und nicht nach Macht strebt, ist er nicht etwa ungeeignet, sich der Politik zu widmen, sondern gehört im Gegenteil in sie hinein. Es stimmt nicht, dass ein Politiker notwendigerweise intrigieren muss. Die Voraussetzung für Politik ist nicht die Fähigkeit zu lügen. In der Politik können nicht nur gefühllose Zyniker bestehen. Diese alle, das ist wahr, zieht Politik an. Aber letztlich muss sich menschliche Politik durchsetzen: Politik als praktizierte Sittlichkeit.“ Wenn sich auf vielen Feldern der Gesellschaft an der Würde des Menschen orientierte Bürger für mehr Humanität einmischten, könnte die Expertin für Bio-Ethik, Christine von Weizsäcker ihre Befürchtung vielleicht mildern. Sie äußerte die bedrückende Vorstellung, das Experiment eines Nervenforschers könnte symbolisch für die menschliche Gesellschaft sein:

„Der Forscher untersuchte das Schwarmverhalten von Fischen. Dazu nahm er aus einem Fischschwarm einen Fisch heraus und unterbrach in dessen Kopf die Verbindung zum Großhirn. Er wollte sehen, ob der gehirn-amputierte Fisch sich noch im Schwarm halten kann. Was geschah? Dieser Fisch, frei von Mitwelt-Wahrnehmung, ohne Rücksicht und Vorsicht, schwamm ungebremst ziellos in schnellem Zickzack umher – und: der ganze Schwarm folgte ihm! Das unvernünftige Verhalten des hirnlosen Fisches machte, so könnte man denken, auf den Schwarm den Eindruck, er wisse, wo’s lang geht. Wenn ich mir unsere Gesellschaft anschaue, schreibt Christine von Weizsäcker, kommt mir immer häufiger der Verdacht, die Mehrheit folgt denen mit amputierter eingeschränkter Wahrnehmung.“

Aus der Herden-Konformität heraustreten

Wir brauchen Menschen, die nicht in der Herde denen mit eingeschränkter Wahrnehmung folgen, sondern aus der Herden-Konformität heraustreten und Gehorsam verweigern; ohne Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt. Erich Fried bewies Ungehorsam bereits als Sechsjähriger. 1927 griff die Polizei in Wien demonstrierende Arbeiter an. Ein Polizist und 86 Arbeiter wurden dabei getötet.

Erich Fried schreibt: „An dem Tag war meine Mutter mit mir in die Innere Stadt gegangen. Weil die Straßen seit Anfang der Demonstration nicht passierbar waren, suchten wir in einem Laden Zuflucht. Durch das Schaufenster sah ich Bahren mit toten und verwundeten Arbeitern. Kurz darauf ließ der Schriftsteller Karl Kraus große Plakate anschlagen, gerichtet an den Polizeipräsidenten, der war für das Massaker verantwortlich: ‚Ich fordere Sie auf, abzutreten.’ Natürlich war der Blutige Freitag wochenlang Gesprächsthema. Es war mein erstes Schuljahr. Ich sollte zu Weihnachten im Festsaal unserer Schule ein Gedicht aufsagen. Als ich auf der Bühne stand, hörte ich jemand sagen: ‚Der Polizeipräsident ist unter den Gästen.’ Also trat ich vor, verbeugte mich und sagte in meiner besten Redemanier: ‚Meine Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Schober ist unter den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, ich kann vor Herrn Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.’ - Nochmals verbeugte ich mich und trat zurück. Der Polizeipräsident sprang auf und verließ den Saal. Ich trat wieder vor und sagte: ‚Jetzt kann ich mein Weihnachtsgedicht aufsagen.’

Ich deklamierte es mit all dem Pathos, das man mir beigebracht hatte. Großer Applaus. Mein Lehrer wartete schon auf mich. Er umarmte mich: ‚Das ist ja großartig, Erich!“ - Mein Vater grollte: ‚Ich dulde das nicht. Der Junge schwimmt mir in kommunistischem Fahrwasser!’ Ich hatte keine Ahnung, was das hieß, aber da mein Vater, der auch gegen meine schauspielerische Betätigung gewesen war, es so ablehnend sagte, musste es grundsätzlich etwas Gutes sein, folgerte ich.“

Die Freiheit, den Mund aufzumachen

Erich Fried zeigte während seines ganzen Lebens sozialen Mut: in seiner politisch und gesellschaftlich engagierten Lyrik, in Erzählungen und Essays. Er mischte sich politisch gegen den Vietnam-Krieg ein, gegen die atomare Bedrohung, für demokratische Grundrechte. Während des Exils in London half er Flüchtlingen, die Deutschland verlassen mussten. Einer seiner Gedichtbände trägt den Titel: „Die Freiheit, den Mund aufzumachen.“

Die Freiheit, den Mund aufzumachen, kann helfen, den Alltag menschlicher zu gestalten. In unserer Gegenwart muss jedoch jede Überlegung die Frage einschließen: Wie können wir das Leben auf der Erde bewahren? Der Historiker Paul Kennedy meint: „Die globale Gesellschaft befindet sich in einem Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe. Die Kräfte des Wandels sind so weitreichend, dass sie nichts Geringeres als eine Neu-Erziehung der Menschheit erfordern.“ Für eine Neu-Erziehung der Menschheit muss „Politik“ vor allem bedeuten: „Frieden machen“. Denn die Welt bedarf des Friedens, wenn sie sich nicht selbst zerstören soll. An diesem Wandel des Bewusstseins können wir mitarbeiten: die Bewegung auf die Katastrophe hin wahrnehmen, den Schrecken nicht verdrängen, und sich mit sozialem Mut einmischen. Kann Zivilcourage Berge versetzen? Ich antworte mit Erich Kästner:

Die Erde soll früher einmal
ein Paradies gewesen sein.
Möglich ist alles.
Die Erde könnte wieder
ein Paradies werden.
Alles ist möglich.

Oder?

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