Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken
Vom achtsamen Umgang mit Schülern, Eltern und Lehrern
Tugenden üben – statt Wort-Belehrung
1. Kinder und Jugendliche brauchen ein aufrichtendes Wort: Achtsamkeit
durch Ermutigung
Wenn Kinder für ihre Leistung anerkannt werden, steigt ihr Lerninteresse.
Bei fortwährendem Tadel sinkt die Lernbereitschaft. Besonders gering
ist der Lernwille, wenn Jugendliche nicht beachtet werden. Ermutigung
ermöglicht den Schülern, zielstrebig zu arbeiten und erhöht
ihre Leistung. Von Eltern und Lehrern wahrgenommen zu werden, festigt
ihren Glauben an sich selbst: ihr Selbstbild. Eltern und Lehrer sollten
nicht nur loben, sondern anerkennen: genau hinsehen, das Kind
als ganze Person erkennen. „Gute Worte“ machen zuversichtlich..
Bei Eltern und Erziehern, die Mut machen, kommt es zu Freundlichkeit in
der Beziehung. – Auch Lehrerinnen, Lehrer und Eltern brauchen ein
„gutes Wort“; das sollten Kinder für einen achtungsvollen
Umgang mit ihnen wissen.
2. Zuhören: „Ganz Ohr sein” gibt Kindern Sicherheit und
stärkt ihr Selbstwertgefühl
Kinder fühlen sich respektiert, wenn Erwachsene nicht nur auf sie
einreden, sie nicht nur lenken und belehren, sondern ihnen in
Ruhe zuhören, sie ausreden lassen. Bei diesem Zuhören
interessieren sich Eltern, Lehrer, Erzieherinnen dafür, wie das Kind
eine Situation erlebt, was es freut und ängstigt, was es sich wünscht.
Sie nehmen Anteil an seinen Sorgen, Schwierigkeiten, Enttäuschungen.
Dadurch fühlt sich das Kind ernst genommen; das stärkt sein
Selbstwertgefühl. Die Erfahrung, gehört zu werden, hat zur Folge,
dass Kinder auch ihren Lehrern und Eltern besser zuhören.
3. Angstgefühle respektieren – Eltern sollten Angst annehmen,
die Gefahr erkennen, handeln
Kinder sollten mit ihren Ängsten angenommen werden: Die
Eltern lassen sich die Angst mitteilen, statt zu beschwichtigen, sie gehen
auf die Befürchtungen ein, statt sie mit dem Satz zurückzuweisen:
„Du brauchst keine Angst zu haben”. Hilfreich ist, die Gründe
für die Angst zu erkennen und Kinder zu unterstützen, die angst-machende
Gefahren-Situation zu verändern. Wenn wir Kindern die Angst „ausreden“,
fühlen sie sich allein gelassen. Wir sollten Kinder ermuntern, sich
mit ihrer Angst erkennen zu lassen und sie mit ihnen gemeinsam bearbeiten.
4. Angst stört die Leistungsfähigkeit – „Aufrufen“
muss nicht sein – Die Individualität achten
Übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert,
anpassungsbereit und schweigsam. Es gehört zur achtsamen Lehrer-Schüler-Beziehung,
Angst zu vermindern. Viele Kinder fürchten sich vor dem „Abfragen“
für Zensuren. Ihr Denken wird durch Angst blockiert, sie leisten
nicht, was ihnen eigentlich möglich wäre. „Mündliche
Leistungsnachweise“ können auf vielerlei Weise gefordert werden,
ohne Kinder zu erschrecken. Schüchterne Schüler leiden besonders
unter der Furcht vor dem „Drankommen“. Wenn sie hingegen nur
dann vor der Klasse sprechen müssen, wenn sie sich melden, wird die
Furcht verringert und sie werden allmählich mutiger.
5. Angst mildern durch lernpsychologisch begründetes Prüfen
– Schülern zu Erfolg verhelfen
Bei lernpsychologisch begründetem Prüfen wissen die
Schüler genau, was drankommt, sie wirken mit, Fragen
auszudenken, bekommen ausreichend Zeit, sich vorzubereiten, üben
in Vorversuchen die Leistungsprüfung ein, lernen Methoden
geistigen Arbeitens, dürfen Hilfsmittel verwenden.
Sie bekommen die Prüfungsarbeiten rasch zurück, werden
informiert über Erfolg und Misserfolg und bekommen Hilfen
für das Weiterlernen. Lernpsychologisch sinnvoll ist es, missglückte
Prüfungen wiederholen und nicht die Kinder auf ihrem Misserfolg
sitzen zu lassen.
6. Achtsam miteinander umgehen durch pädagogischen Takt im Familien-
und Schul-Alltag
Taktvoll miteinander umzugehen beruht auf der Achtung vor der Würde
des Menschen. Die ungleiche Situation zwischen Kindern und Erwachsenen
erfordert, sich in Kinder einzudenken, Rücksicht vorzuleben
und die Schüler zu Rücksicht gegenüber Lehrer und Eltern
anzuleiten. Bei pädagogischem Takt können Kinder sicher sein,
nie bloßgestellt, nicht ausgelacht und beschämt zu werden.
Zensuren werden nicht vor anderen bekannt gegeben, Fehler nicht öffentlich
bemängelt, Arbeiten behutsam korrigiert. Taktvolle Erzieher vermeiden
es, geistige und körperliche Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen,
Kinder durch Ironie oder mit Schimpf- und Spottnamen zu erniedrigen. Auf
der anderen Seite haben Eltern und Lehrer das Recht, von Jugendlichen
anständig behandelt zu werden.
7. Unterricht, eine helfende Beziehung –Lehrer: nicht nur Wissensvermittler,
sondern Lernhelfer
Lehrer-Sein ist ein helfender Beruf: den Kindern beim Lernen zu helfen
ist mehr als „Wissen vermitteln“. Ein freundlicher Kontakt
zwischen Lehrern und Schülern zählt zu den Grundlagen des Lernens.
Die menschliche Beziehung festigt in Kindern den Lernwillen und verhilft
zu Zufriedenheit. Schüler strengen sich mehr an, wenn sie mit einem
persönlichen Wort angesprochen werden und sie den Lehrer als Autorität
anerkennen. Lehrer sorgen für eine Ordnung, in der Schüler gut
lernen können – und die Schüler unterstützen den
Lehrer, indem sie die Lernordnung einhalten.
8. Jedes Kind braucht Lernerfolg – Unterschiedliche Anforderungen
an unterschiedliche Kinder
Zur Achtsamkeit gegenüber Schülern gehört: ihnen zu Erfolg
zu verhelfen, auch den Schwächeren. Nichts spornt den Lernwillen
mehr an, als eine geglückte Leistung. Statt ständig
Leistung zu messen, sollten Lehrer Leistung ermöglichen:
durch individuelle Anforderungen, die für das Kind das Lernziel erreichbar
machen. In einem differenzierenden Unterricht müssen nicht
alle das Gleiche lernen, sondern jedes Kind leistet das ihm Mögliche.
Am Ende des Unterrichts sollten die Schüler erkennen: „Ich
habe etwas dazu gelernt.“ Lernerfolg ist Garant für weiteren
Erfolg.
9. Fehlerfreundlichkeit, ein Lernprinzip – Aus Fehlern lernen,
statt Kinder damit bewerten
Die Erwartung, alles richtig machen zu müssen, kann Kinder in ängstliche
Anspannung versetzen. Lernfreude geht verloren, wenn Fehler wie ein „Feind“
bekämpft werden. Statt dem „Fehlerblick“ von Eltern und
Lehrern, sollte Fehlerfreundlichkeit Lernprinzip sein. Das unterstützt
den Lernprozess. Fehler werden nicht „angekreidet“, sondern
sind Anlass, aus ihnen zu lernen. Fehlleistungen sind für die Entwicklung
notwendig, wer nichts versucht, macht keine Fehler. Aus den Fehlern ersehen
die Erwachsenen, wo die Kinder stehen und wie sie ihnen weiter helfen
können.
10. Lernen geht nicht ohne Zwang – Arbeitsdisziplin und gute Lerngewohnheiten
einüben
Um den Lernwillen zu stärken, müssen wir Kinder auch dazu
anhalten, „gegen den Strich“ zu lernen. Zwang, um das Ich
zu unterstützen, sollte für Schüler einsichtig
sein. Es geht nicht darum, Kinder zu unterdrücken, sondern sie erfahren
zu lassen: Das habe ich geschafft, obwohl es mir schwer fiel. Sie werden
gestärkt, den inneren Widerstand zu überwinden. Lernen soll
Freude machen, aber auch Lernen ohne Lust ist nötig. Gute Arbeitsdisziplin
und gute Lerngewohnheiten erleichtern das Lernen.
11. Sich als Eltern für das Lernen der Jugendlichen interessieren
– Anteil nehmen
Mütter und Väter sollten sich für das interessieren,
was Kinder im Unterricht lernen; nicht ausfragend und kontrollierend,
sondern Anteil nehmend: die schulische Arbeit aufmerksam begleiten, den
Lernfortschritt wahrnehmen, über Gelerntes miteinander reden, helfen,
wenn das Kind hilflos ist. Sie akzeptieren auch außerschulische
Aktivitäten und halten Kontakt zu den Lehrern ihrer Kinder.
12. Die Langsamkeit entdecken – Schüler haben ein Recht auf
ihr persönliches Lerntempo
Kinder sollen nachhaltig lernen, dazu brauchen sie Zeit. Lernen
ist ein Wachstumsprozess, und Wachsen geht langsam vor sich. Wenn Eltern
und Lehrer Kinder unter Zeitdruck setzen, kommt innere Unruhe und Anspannung
auf. Den Langsamen wird oft Unrecht getan, nur weil sie langsam sind.
Die „Entdeckung der Langsamkeit“ wäre eine kinderfreundliche
Errungenschaft. Sie täte auch Eltern und Lehrern gut. Schüler
haben ein Recht auf das eigene Zeitmaß, denn Menschen sind verschieden,
auch im Hinblick auf Langsamkeit und Schnelligkeit. „Gras wächst
nicht schneller, wenn man daran zieht.“
13. Schülerinnen und Schüler den Unterricht mitgestalten lassen
– Demokratie lernen
Jugendliche dürfen mitplanen, Kritik und Selbstkritik üben,
Widerspruch und Änderungsvorschläge vorbringen, selbstbestimmtes
Lernen wahrnehmen, Projekte durchführen. Dazu müssen sie lernen,
wie man lernt, wie man taktvoll Kritik übt. Sie können in vielen
schulischen Fragen mitsprechen: Lerninhalte auswählen, eigene Beiträge
leisten, schulisches Leben mitgestalten. Wenn Schüler Einfluss nehmen
dürfen, fühlen sie sich nicht ohnmächtig, sondern in ihrem
Selbstwert bestärkt und mitverantwortlich. Freiarbeit und offener
Unterricht vermindern zudem die Aggressivität.
14. Achtsamkeit: Auf Kinder achten - Halt geben und Einhalt gebieten
- Hilfe zur Orientierung
Es macht Kinder mutlos – oder aggressiv –, wenn man sie
in allem gewähren lässt. Sie brauchen Halt im Sinne der Unterstützung
– und Einhalt: Halt, hier darfst du nicht weiter. Macht-behauptende,
autoritäre Erziehung schwächt das Ich des Kindes, es bricht
seinen Willen. Alles gewähren lassende, falsch verstandene
antiautoritäre Erziehung schwächt die Person ebenfalls. Kinder
brauchen eine unterstützende „helfende Beziehung”, die
ihren Realitätssinn schärft, Selbstbewusstsein
und Selbstverantwortung stärkt, sie zu einsichtigem
Gehorsam führt.
15. Sachliche und persönliche Grenzen aufzeigen – Grenzenlosigkeit
macht Kinder hilflos
Zur Achtsamkeit gegenüber Kindern gehört, ihnen Grenzen aufzuzeigen,
damit sie sich orientieren können. Wir müssen ihnen sachliche
Begrenzungen vor Augen führen, die Wirklichkeit klären und ihnen
helfen, die Realität wahrzunehmen. Zum anderen ist hilfreich, nicht
„Du sollst Forderungen” und „Man-tut-nicht-Regeln”
aufzustellen, sondern die persönlichen Grenzen von Eltern
und Erziehern erkennen lassen. Dann wird es Kindern möglich, Rücksicht
zu nehmen. Wenn sie „alles dürfen“, können sie grenzen-los
und übergriffig werden.
16. Ordnung und gute Gewohnheiten einüben erspart Konflikte
Es ist hilfreich, gute Gewohnheiten einzuüben, über
die nicht mehr geredet werden muss. Das geht nicht ohne wohlwollenden
Zwang. Der hilft Kindern, Schwierigkeiten zu überwinden. Es entlastet
Erwachsene wie Kinder, Rituale und feste Ordnungen zu vereinbaren. Viele
Gehorsams-Forderungen werden überflüssig durch selbstverständliche
Ordnungen: bei der Mithilfe in der Familie, in der Schule, beim Aufgabenmachen
Was zur guten Gewohnheit wird, bedarf nicht erneut eines Willensentschlusses
durch das Kind, oder einer Anordnung durch die Erwachsenen.
17. Selbständigkeit macht Mut und stärkt das Ich - Kinder
nicht verwöhnen
Es macht Kinder mutlos, wenn sie verwöhnt werden: alles bekommen,
alles haben, alles dürfen. Verwöhnung schwächt
die Person ebenso wie die autoritäre Unterwerfung. Kinder werden
mit vielem „überfüttert“: mit Nahrung, Spielsachen,
Lernstoff, technischen Geräten, „Spaß“. Dadurch
verlernen sie aktiv zuzugreifen. Sie geraten in passive Erwartungshaltung
nach „noch mehr“. Das macht sie bei Herausforderungen
hilflos. Wenn sie hingegen von klein auf lernen, alles selbst
zu tun, was sie selbst tun können, werden sie eigenständig.
18. Die Gefahr der Medien-Verwahrlosung durch Fernsehen, Internet und
Videos
Medien-Verwahrlosung ist eine besondere Gefahr von Grenzenlosigkeit:
Das zeitlich und inhaltlich unkontrollierte Fernsehen, womöglich
mit eigenem Fernseher im Kinderzimmer, setzt Jugendliche ständigen
Versuchungen aus, meist an kommerziellem Gewinn orientierten. Schädlich
sind nicht nur die Inhalte oberflächlicher Unterhaltung,
Horrorfilme, Gewaltdarstellungen, Sex-Filme. Es ist die Passivität,
in der die Kinder vor der Mattscheibe sitzen und ihre gesunde Aktivität
unterdrücken.
19. Konflikte in Familie und Schule gewaltlos regeln – Verständigung
Eltern und Lehrer können mit den Kindern gemeinsam versuchen, Konflikte
gewaltfrei zu lösen:
-
Aus dem Machtkampf aussteigen, statt der Stärkere sein zu müssen.
-
Sich mit dem Denken und Fühlen begreifen lassen, statt Überzeugungs-Machtkämpfe
zu führen.
-
Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten. Statt Vergeltung: Verständigung
suchen.
-
Nicht Sieger sein und andere zu Verlierern machen wollen, sondern
-
im Kontakt bleiben: Bekanntschaft ist der Feind der Feindschaft.
20. Den Kindern und Jugendlichen Vorbild sein – Tugenden nicht
nur lehren, sondern vorleben
Erwachsene sollten die Tugenden vorleben, zu denen sie erziehen
wollen. Kinder sollen erfahren, wie Eltern und Lehrer achtungsvoll mit
Kindern und Erwachsenen umgehen, wie sie Mut zeigen, sich für das
Richtige einzusetzen. Kinder übernehmen eher das, was die Erwachsenen
tun, als das, was diese vorschreiben. Lehrer sind Autorität
durch ihr moralisches Vorbild, ihre Beziehungsfähigkeit, Hilfsbereitschaft,
ihr sachliches Wissen und unterrichtliches Können. Tugenden zu lehren,
muss sich damit verbinden, Tugenden zu praktizieren: Rücksichtnahme,
Wahrhaftigkeit, Besonnenheit...
21. Achtloser Umgang kann Kinder seelisch und psychosomatisch krank
machen
Überforderung, Demütigung, seelische Kränkung können
in Kindern psychische und psychosomatische Störungen verursachen:
Angstzustände, Schlaflosigkeit, Bauchweh, Kopfschmerz, Konzentrationsschwäche,
Lernverweigerung, Zähneknirschen, Nägelbeißen, Einnässen.
In diesen Symptomen drückt sich seelisch nicht bewältigte Dauerspannung
aus. Die seelische Verspannung verwandelt sich in körperlichen
Schmerz.
22 . Achtsamkeit: Kinder vor seelisch verletzendem Verhalten schützen
Wenn Einzelfälle von Lehrern Kinder seelisch verletzen - durch
demütigende Worte, Auslachen, Bloßstellung, entwertende Bemerkungen,
unangemessene Bestrafung -, sollten sich Eltern und Lehrerkollegen schützend
vor die Schüler stellen; denn die Kinder selbst können sich
gegen den Macht-Missbrauch nicht wehren. Dass es sich „nur um Einzelfälle“
handelt, hilft den betroffenen Schülern nicht. Alle Kinder
haben das Recht auf den Schutz ihrer Persönlichkeit, wie das Lehrerinnen
und Lehrer auch von den Schülern erwarten müssen.
23. Grundlagen achtsamer Beziehung: Menschenrechte – Kinderrechte
– Gewaltfreie Erziehung
In der Erklärung der Vereinten Nationen steht: „Kein Kind
darf willkürlichen oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner
Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Die Disziplin in der Schule muss
in einer Weise gewahrt werden, die der Menschenwürde des Kindes entspricht.
Es hat das Recht, seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten
frei zu äußern. Die Erwachsenen berücksichtigen die Meinung
des Kindes…” Im Grundgesetz heißt es: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.” Seit 2000 ist gewaltfreie Erziehung
Kinderrecht. Das neue Gesetz verbietet „körperliche Bestrafung,
seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen”.
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