Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken
Kindern Mut machen – Wie geht das?
Bei Ängsten in Familie und Schule: Die Kinder stärken
1. Angst gehört zum menschlichen Leben – Sie ist das Signal
für eine Gefahr
Angst ist ein Signal, das uns vor Gefahren warnt. Sie fordert
uns dazu auf, sie zu überwinden:
Wir müssen etwas tun, um die Gefahr zu beseitigen oder zu
vermindern, oder um der Bedrohung auszuweichen. Die Angst annehmen
und meistern, bedeutet einen Entwicklungsschritt. Vor der Angst auszuweichen
und sich nicht mit ihr auseinander zu setzen, lässt uns
in der persönlichen Entwicklung stehen und hilflos bleiben. Angst
ist eine „Hüterin des Lebens“.
2. Angst ist eine seelische Kraft, die uns aktiv macht und schützt
Angst kann uns aktiv machen – und sie kann uns lähmen. Sie
hilft uns, Probleme zu bewältigen, die uns bedrohen. Wo wir die Angstschranke
überwinden, indem wir handeln, werden wir seelisch
stärker. Hemmend wirkt die Angst, wenn wir einer Situation ohnmächtig
ausgeliefert sind. Da kann Angst unfähig zum Denken und Handeln machen
oder Krankheit verursachen. Kinder sind naturgemäß in einer
hilflosen Situation. Deshalb müssen wir ihnen helfen, die Angst zu
überwinden.
3. Angst bei Kindern entspringt der Hilflosigkeit –Trennungsangst
ist die früheste Angst
Angst entsteht aus Hilflosigkeit. Deshalb „brauchen“ Kinder
die Angst besonders, und deshalb sind
Kinder bedroht, von Angst überwältigt und seelisch wie körperlich
krank gemacht zu werden. Die ursprünglichste Angst des Kindes ist
Trennungsangst: die Angst, seine schützende Bezugsperson zu verlieren.
Schon eine kurzzeitige Trennung in der frühen Kindheit kann Kinder
seelisch schwer verletzen. Vielen späteren Ängsten liegt Trennungsangst
zu Grunde.
4. Das Angstgefühl der Kinder respektieren – Die Angst annehmen
und bearbeiten
Kinder sollten mit ihren Ängsten angenommen werden: Die
Eltern lassen sich die Angst mitteilen, statt zu beschwichtigen, sie gehen
auf die Befürchtungen ein, statt sie mit dem Satz zurückzuweisen:
„Du brauchst keine Angst zu haben”. Hilfreich ist, die Gründe
für die Angst zu erkennen und Kinder zu unterstützen, die angstmachende
Situation zu verändern. Wenn wir Kindern die Angst „ausreden“,
fühlen sie sich allein gelassen. Es gilt, die Gefahr, vor der sich
das Kind fürchtet, genau anzusehen. Wir sollten Kinder ermuntern,
sich mit ihrer Angst erkennen zu lassen.
5. Zuhören: „Ganz Ohr sein” gibt Kindern Sicherheit
Kinder fühlen sich verstanden, wenn Erwachsene nicht nur auf sie
einreden, sie nicht nur lenken und belehren wollen, sondern ihnen in Ruhe
zuhören, sie ausreden lassen. Bei diesem Zuhören
interessieren sich Eltern, Lehrerinnen und Lehrer dafür, wie das
Kind eine Situation erlebt, was es freut und ängstigt, was
es sich wünscht. Sie nehmen Anteil an seinen Sorgen und Schwierigkeiten,
an Wut und Enttäuschung. Dadurch fühlt sich das Kind ernst genommen;
das stärkt sein Selbstwertgefühl – und aus einem sicheren
Selbstwertgefühl erwächst Mut.
6. Kinder brauchen ein aufrichtendes Wort - Das „gute Wort“
stärkt den Mut
Wenn Kinder anerkannt werden, trauen sie sich mehr zu. Bei fortwährendem
Tadel hingegen wächst in ihnen die Meinung, sie seien nichts wert.
Das ermutigende Wort der Erwachsenen führt zu Selbstvertrauen, es
stärkt den Glauben des Kindes an sich selbst. Eltern und Lehrer sollten
mehr anerkennen statt tadeln, das Geglückte sehen und bestätigen.
Die Ängstlichen brauchen das ermunternde Wort besonders. Es geht
dabei nicht nur um „loben“, sondern um genaues Hinsehen und
erkennen dessen, was tatsächlich gelungen ist.
7. Kindern Halt geben und Einhalt gebieten - Hilfe zur Orientierung
Es macht Kinder mutlos – und unter Umständen aggressiv –
wenn man sie in allem gewähren lässt. Sie brauchen Halt im Sinne
der Unterstützung – und Einhalt: Halt, hier darfst
du nicht weiter. Machtbehauptende, autoritäre Erziehung schwächt
das Ich des Kindes, es bricht seinen Willen. Alles gewähren lassende,
falsch verstandene antiautoritäre Erziehung schwächt die Person
ebenfalls. Kinder brauchen eine unterstützende, „helfende Beziehung”,
die ihren Realitätssinn schärft, Selbstbewusstsein
und Selbstverantwortung stärkt, sie zu einsichtigem
Gehorsam führt.
8. Sachliche und persönliche Grenzen aufzeigen – Grenzenlosigkeit
macht hilflos
Kinder brauchen Grenzen. Wir müssen ihnen sachliche Begrenzungen
vor Augen führen, die Wirklichkeit klären und ihnen helfen,
die Realität wahrzunehmen. Zum anderen ist hilfreich, wenn Erzieher
nicht nur „Du sollst Forderungen” und „Man-tut-nicht-Regeln”
aufstellen, sondern ihre persönlichen Grenzen erkennen lassen.
Wenn Kinder die Wünsche der Eltern und Erzieher wahrnehmen, wird
es ihnen möglich, Rücksicht zu nehmen. Wenn sie „alles
dürfen“, können sie grenzenlos und übergriffig werden.
Letztlich macht Grenzenlosigkeit hilflos, weil sich die Kinder nicht orientieren
können.
9. Das Einüben von Ordnung und guten Gewohnheiten erspart Konflikte
In Familie und Schule ist es hilfreich, gute Gewohnheiten einzuüben,
über die nicht mehr geredet werden muss. Das geht nicht ohne wohlwollenden
Zwang. Der hilft Kindern, Schwierigkeiten zu überwinden. Es entlastet
Erwachsene wie Kinder, Rituale und feste Ordnungen zu vereinbaren. Viele
Gehorsams-Forderungen werden überflüssig, wenn Kinder lernen,
Ordnungen einzuhalten: bei der Mithilfe in der Familie, in der Schule,
beim Aufgabenmachen… Was zur guten Gewohnheit wird, bedarf nicht
erneut eines Willensentschlusses durch das Kind oder einer Anordnung durch
die Erwachsenen.
10. Kinder nicht verwöhnen – Selbständigkeit macht Mut
und stärkt das Ich
Es macht Kinder mutlos, wenn sie verwöhnt werden: alles bekommen,
alles haben, alles dürfen...Verwöhnung schwächt
die Person ebenso wie die autoritäre Forderung, sich anzupassen.
Wenn Kinder mit vielem „überfüttert“ werden: mit
Nahrung, Fernsehen, Spielsachen, Lernstoff, technischen Geräten,
„Spaß“-Betätigungen, Lernstoff, Videos...verlernen
sie aktiv zuzugreifen. Sie geraten in passive Erwartungshaltung
nach „noch mehr“. Das macht sie bei Herausforderungen
hilflos und ängstlich. Wenn sie hingegen von klein auf lernen, alles
selbst zu tun, was sie selbst können, werden sie selbständig.
Diese Selbständigkeit gibt ihnen Sicherheit, angstmachende Situationen
zu meistern.
11. Die Gefahr der Medien-Verwahrlosung durch Fernsehen, Internet und
Videos erkennen
Medien-Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen ist eine besondere
Gefahr von Grenzenlosigkeit: Das zeitlich und inhaltlich unkontrollierte
Fernsehen, womöglich mit dem eigenen Fernseh-Gerät im Kinderzimmer
setzt Jugendliche den ständigen, meist an kommerziellem Gewinn orientierten
Verführungen dieses Mediums aus. Schädlich sind nicht nur die
Inhalte von oberflächlicher Unterhaltung, Horrorfilmen,
Gewaltdarstellungen, Porno-Filmen... Es ist die Passivität,
in der die Kinder vor der Mattscheibe sitzen und ihre gesunde Aktivität
ruhig stellen.
12. Achtsam mit Kindern umgehen: Pädagogischer Takt im Familien-
und Schulalltag
Die ungleiche Situation zwischen Kindern und Erwachsenen erfordert in
Familie und Schule, sich in Kinder einzudenken, Rücksicht
vorzuleben und die Heranwachsenden zu Rücksicht anzuleiten.
Bei Lehrern mit pädagogischem Takt können Kinder sicher sein,
nie bloßgestellt, nicht unvorhergesehen aufgerufen zu werden. Schüler
werden nicht ausgelacht und beschämt. Taktvolle Lehrerinnen bemängeln
Fehler nicht öffentlich; sie korrigieren behutsam, um die Schülerarbeit
nicht zu entwerten, äußern sich nicht entwertend über
geistige und körperliche Schwächen, erniedrigen Kinder nicht
durch Ironie, Schimpf- und Spottnamen. Fehlerfreundlichkeit gilt als Lernprinzip:
Aus Fehlern lernen, statt die Lernenden damit zu verurteilen.
13. Kindern die erreichbare Leistung ermöglichen – Lernfortschritt
macht Mut
Nichts spornt Kinder in ihrem Lernwillen mehr an, als eine geglückte
Leistung; diese stärkt das Selbstbewusstsein. Eltern und Lehrer sollten
den Kindern Leistung ermöglichen: durch individuelle
Anforderungen, die das Lernziel für den Schüler erreichbar macht.
Es ist entmutigend, wenn alle Kinder das Gleiche lernen müssen, denn
dabei werden die Schwachen zum Misserfolg verurteilt. Jeder Schüler
soll das ihm Mögliche leisten dürfen. Das Gefühl,
etwas geleistet zu haben, ermutigt Kinder.
14. Angst mildern durch lernpsychologisch begründetes Prüfen
– Hoffnung auf Erfolg
Übermäßige Angst macht dumm, krank, unkonzentriert, anpassungsbereit
und stumm. Es gehört zur helfenden Lehrer-Schüler-Beziehung,
Angst zu vermindern. Zum Beispiel durch lernpsychologisch begründetes
Prüfen: Die Schüler wissen genau, was drankommt, wirken
mit beim Erstellen von Fragen, bekommen ausreichend Zeit,
um sich vorzubereiten, üben in Vorversuchen die Prüfung
ein, lernen Methoden geistigen Arbeitens, dürfen Hilfsmittel
verwenden. Sie werden gut informiert über Erfolg und Misserfolg
und bekommen Hilfen für das Weiterlernen. Lernpsychologisch sinnvoll
ist es, missglückte Prüfungen wiederholen und nicht
die Kinder auf ihrem Misserfolg sitzen zu lassen. Hoffnung auf Erfolg
stärkt den Mut zum Lernen.
15. Konsequenzen aus der PISA-Studie: Angstfreies Lernen ohne Leistungsdruck
In vielen Ländern mit guten Schülerleistungen gibt es
-
keine Ziffernnoten, sondern ausführliche Empfehlungen
und individuelle Lernhilfen
-
kein Sitzen-Bleiben, dafür ein „Aufgefangen-
und Gehalten-Werden“ durch individuelle Förderung
-
individualisierenden Unterricht, Kinder lernen auf ihrem
persönlichen Leistungsniveau
-
keinen 45-Minuten-Takt, sondern ganzheitliches und vertieftes
Lernen
-
Zusammenarbeiten statt Konkurrieren, Partner-, Kleingruppenarbeit,
Kreisgespräch
-
Lernerfolg für alle: Unterricht muss nicht „Spaß
machen“, sondern Erfolg bescheren
-
keine frühe Auslese, die Schüler bleiben zum
Teil bis zum 10.Schuljahr in einer Klasse
-
Hilfe für die Schwächeren, statt sie mit schlechten
Noten zu ängstigen und sie in Nachhilfeunterricht zu schicken.
16. Kinder sollen ein sich selbst bewahrendes „Nein” sagen
lernen – Widerspruchsmut stärken
Zur Mut-Erziehung gehört: Den „Eigensinn“ des Kindes
als „eigenen Sinn“ zu respektieren und nicht als „Eigensinn“
zu unterdrücken. Kinder sollen erfahren, mit dem eigenen Wollen angenommen
zu werden. Sie müssen lernen, ein sich selbst bewahrendes Nein
auszusprechen und darin unterstützt werden, sich gegen die Erwachsenen
zu wehren, wenn diese ihre Macht missbrauchen. Widerspruchsmut ist –
wie einsichtiger Gehorsam – eine Tugend, in der wir Jugendliche
bestärken sollten.
17. Das Selbstwertgefühl festigen – Mutlose Kinder brauchen
Wertschätzung und Lernerfolg
Kinder, die davon überzeugt sind: „Ich schaffe das schon!“
können Anforderungen besser bewältigen. Ängstliche Jugendliche
hingegen haben ein unsicheres Selbstwertgefühl. Damit sie sich selber
sicherer werden, brauchen sie zuverlässige Kontakte, eine angstfreie
Eltern-Kind-Beziehung, einen Halt gebenden Lehrer-Schüler-Kontakt.
Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt durch Lernerfolg in der Schule,
Anerkennung durch Lehrer und Eltern, die Erfahrung, gebraucht zu werden.
Wenn sich Kinder in der Familie, in der Klasse, in einer Gruppe „aufgehoben”
fühlen, trauen sie sich mehr zu. Ein sicheres Selbstvertrauen hält
Ängste in Schach.
18. Jugendliche sollen sozialen Ungehorsam und Zivilcourage lernen
– Demokratische Tugenden
Kinder sollen ermutigt werden, sich unvernünftigen oder moralisch
verwerflichen Befehlen zu widersetzen. Dazu müssen sie Wertvorstellungen
entwickeln, nach denen sie ihren Gehorsam oder Ungehorsam ausrichten können.
Zivilcourage sollte als wichtige demokratische Tugend in Familie und Schule
gefördert werden: der Mut, die eigene Meinung auszusprechen, sich
mit seiner Überzeugung erkennen zu lassen, für mehr Menschlichkeit
einzutreten, sich mit Sachkenntnis argumentativ einzumischen und politisch
zu handeln, gegen den Strom zu schwimmen. Bürgermut ist eine wichtige
demokratische Tugend.
19. Kindheitserfahrungen, die den Mut fördern
-
Fürsorgliche Haltung in der Familie, sichere Führung,
Interesse füreinander.
-
Achtsamer Umgang mit dem Selbstwertgefühl des Kindes,
ich-stärkende Erfahrungen.
-
In der Familie werden humane Wertvorstellungen erfahren
und Tugenden gelernt.
-
Eltern, Lehrer und Erzieher fordern nicht blinden, sondern einsichtigen
Gehorsam. Erkennendes Gehorchen wird zur wertgerichteten Entscheidung.
-
Widerspruch, Eigen-Sinn und Ungehorsam der Kinder werden
ernst genommen.
-
Eltern und Lehrer argumentieren; sie erklären die
Regeln, die sie aufstellen und setzen
sich mit den Kindern über wertvolles Handeln auseinander.
-
Unabhängiges Denken und Selbständigkeit werden unterstützt,
Kinder machen gute Erfahrungen mit dem Nein-Sagen und lernen,
für sich selbst zu sorgen.
-
Die Eigenständigkeit der Jugendlichen wird gestärkt.
20. Den Kindern Vorbild sein – Tugenden nicht nur lehren, sondern
vorleben
Erwachsene müssen die Tugenden vorleben, zu denen sie erziehen wollen.
Kinder sollen erfahren, wie Eltern und Lehrer achtungsvoll mit anderen
Menschen umgehen, wie sie Mut zeigen, wenn es gilt, sich für das
Gute einzusetzen. Kinder übernehmen mehr das, was die „Großen”
tun, als das, was diese vorschreiben. Lehrerinnen und Lehrer
sind Autorität durch ihr moralisches Vorbild, ihre Beziehungsfähigkeit,
Hilfsbereitschaft, ihr sachliches Wissen und unterrichtliches Können.
Die Jugendlichen Tugenden zu lehren, muss verbunden sein mit
dem gemeinsamen Praktizieren der Tugenden.
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