Prof. Dr. Kurt Singer - Leitgedanken
Zivilcourage wagen – Wie man lernt, sich einzumischen
Sozialer Mut ist lernbar – Eine demokratische Tugend
entdecken –
Für die Würde des Menschen eingreifen, statt wegschauen –
Mutig die eigene Meinung sagen – Ohne sozialen Ungehorsam kein Fortschritt
1. Bei Unrecht wegschauen ? - Persönliche Verantwortung für
Menschenwürde übernehmen
Was gehen mich die anderen an? Misch dich nicht ein, es könnte
dir schaden! Schau lieber nicht hin, sonst bekommst du Ärger. Lass
die Finger weg, es bringt ja doch nichts! - Mit solchen Begründungen
verbergen wir die Furcht vor verantwortungsbewusstem Widerspruch. Am meisten
ängstigt es, allein zu stehen, wenn wir uns öffentlich einmischen.
Sozialer Mut wächst aus der Selbstverpflichtung, das Rechte
zu tun: keinem zu schaden und niemanden zu verletzen, sondern andern zu
helfen und die eigene Würde zu wahren.
2. Was ist Zivilcourage? - Mit sozialem Mut die Angst überwinden
und eingreifen
-
Zivilcourage ist der soziale Mut, die persönliche Meinung
frei zu äußern, auch gegenüber der Obrigkeit
und Mehrheit. Die Einmischung wird auch dann gewagt, wenn sie den
Vorgesetzten, Regierenden oder der Umgebung missfällt.
-
Bürgermut beginnt damit, genau hinzusehen und wahrzunehmen,
was wirklich ist: Statt wegschauen und das Unrecht in Schweigen hüllen.
-
Menschen mit zivilem Mut stehen zu ihrer Überzeugung,
auch wenn ihnen ihr Einspruch Nachteile bringen mag.
-
Sich zivilcouragiert einmischen geschieht nicht privat, sondern
öffentlich. Sie macht die Mitmenschen auf ein gesellschaftliches
Problem aufmerksam.
-
Inhalte des sozialen Mutes sind Themen, die alle Bürger angehen;
sie betreffen das Zusammenleben; deshalb sind sie politisch.
-
Zivilcourage ist gewaltfrei. Menschen mit sozialem Mut
setzen sich „zivil” mit anderen auseinander, gewaltlos
und ohne Macht auszuüben.
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Sozialer Mut zeigt sich im Eintreten für Humanität:
Dem Unrecht mit moralischem Einspruch begegnen, Mensch und Natur schützen,
„Fremde“ und „Andere“ gelten lassen, die Würde
des Menschen achten, Schwachen helfen, Demokratie wagen.
3. Sozialen Mut üben - Schritte zur Zivilcourage: großer
Mut zu kleinen Taten
Die Angst annehmen – Angst ist eine Kraft
Mutig handeln bedeutet nicht, furchtlos zu sein. Nur wer seine Ängste
zulässt, kann Mut entwickeln, sich mit der Angst einmischen
und für gesellschaftliche Veränderungen eintreten. Angst verweist
uns auf die Gefahr, der wir begegnen, und vor der wir uns schützen
müssen. Deshalb ist es wichtig, angstfähig zu sein.
Sich Sachverständnis aneignen und den argumentativen
Widerspruch üben
Sachkenntnis macht mitsprachefähig. Wer sachkundig ist, kann argumentieren
und stärkt sein Selbstbewusstsein. Fachliche Kompetenz ist eine Gegenkraft
zur Angst und eine Voraussetzung dafür, soziale Anliegen durchzusetzen.
Wir brauchen Sachkenntnis dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen
betroffen sind, an denen wir etwas verändern möchten.
Rückhalt in der Gruppe suchen - Zusammenarbeit vermindert
die Furcht
Wer öffentlich widerspricht, kann von der Mehrheit isoliert werden.
Deshalb ist es hilfreich, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren.
Die Zugehörigkeit erleichtert es, für demokratische Grundwerte
einzutreten. Der Zusammenhalt in der Gruppe richtet sich nicht gegen „Feinde”,
sondern dient menschlichen Grundwerten, tritt für das Gute ein. Durch
Kooperation wächst das Sachverständnis.
Sich mit Wertvorstellungen kenntlich machen - Der ethisch
begründete Einspruch
Erkennen lassen, wie wir denken, für welche Werte wir uns einsetzen,
statt anderen unsere Meinung aufzwingen zu wollen. Wir vertreten glaubwürdig
die eigene Überzeugung und versuchen gleichzeitig, Andersdenkende
zu verstehen. Dadurch gelingt es, Überzeugungs-Machtkämpfe zu
vermeiden und sich zu verständigen.
Persönliche Gefühle einbeziehen – Mitfühlfähigkeit
und Mitleid
Fürsorge und Verantwortungsgefühl für die Nächsten
und für sich selbst, motivieren zu sozialem Mut. Aus dem Widerwillen,
Mitmenschen leiden zu sehen, erwächst die Kraft, für das Gute
einzutreten. Es ist hilfreich, nicht nur sachlich zu argumentieren, sondern
sich auch mit dem persönlichen emotionalen Engagement begreifen zu
lassen.
Halt gebende Ideen und Überzeugungen festigen –
Moralische Gegenkräfte
Zum Schwierigsten in Zivilcourage-Situationen gehört die Gefahr,
allein zu stehen. Um die Angst auszuhalten, müssen wir erfüllt
sein vom Sinn unseres Engagements. Wir brauchen ethische und religiöse
Wertvorstellungen, Vorbilder, denen wir folgen, Hoffnung und Zuversicht.
Wie kann ich so handeln, dass ich mir selbst treu bleibe?
Sich gewaltlos auseinandersetzen – Bürgermut ist
zivil
Gewaltfreies Eingreifen vermindert die Gefahr, dass sich Konflikte durch
Gegenaggression verschärfen. Der Widerspruch geschieht argumentativ,
nicht aggressiv. Gegner werden nicht zu Feinden gemacht. Gewaltfreiheit
bezieht sich auch auf Gewalt durch verletzende Worte.
Kleine Schritte wagen - Sozialen Mut einüben
Wie jede Tugend erfordert Bürgermut fortgesetztes Üben: In Familie
und Freundeskreis, der Schule, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit.
Mit kleinen Mutproben beginnen: Sich mit der eigenen Meinung erkennen
lassen, für die persönliche Überzeugung stehen, Einspruch
erheben, wenn Unrecht geschieht. - Kleine Schritte verhindern, dass wir
uns überfordern. Wir sollten unser persönliches Maß an
Bürgermut herausfinden und die Gegenkräfte zur Angst stärken.
4. Ziviler Mut braucht humane Überzeugungen – Welche Menschen
wagen Bürgermut?
Man kann nicht festlegen, was eine zivilcouragierte Persönlichkeit
kennzeichnet. Folgende Eigenschaften finden sich bei sozial mutigen Menschen
häufig:
-
Überzeugt sein von moralischen Werten und Tugenden
-
Einfühlung, Mitgefühl, Mitleid, Freude, Hoffnung
-
Hilfsbereitschaft, Sorge um andere und sich selbst, Nächstenliebe,
-
Soziales Pflichtgefühl, Anständigkeit, Glaube, Toleranz,
Widerspruchsmut
-
Ehrfurcht vor Mensch und Natur, Sinn für Gerechtigkeit, Freiheitsstreben
-
Bindung an Vorbilder, Übereinstimmung von Moralvorstellung
und Handeln
-
Selbstkritik, Fähigkeit, sich zu schämen
-
Eigenständigkeit, Ich-Stärke, Vertrauen in die eigene
Wirkungskraft
-
Sachverständnis, Argumentationsfähigkeit, Verantwortungsgefühl
-
Risikobereitschaft und Ungehorsam, Widerspruchsmut
5. Kindheitserfahrungen, die Zivilcourage fördern – Fürsorge,
Eigen-Sinn, Toleranz
Folgende Kindheitserfahrungen ziehen sich als Leitmotiv durch das Leben
sozial mutiger Menschen. Aber jede Entwicklung verläuft anders, und
manche Person konnte erst im Erwachsenenalter auf speziellen Wegen Bürgermut
wagen.
-
Fürsorgliche Haltung in der Familie, sichere Führung,
Interesse füreinander.
-
In der Familie werden humane Wertvorstellungen erfahren
und Tugenden gelernt.
-
Eltern, Lehrer und Erzieher fordern nicht blinden, sondern einsichtigen
Gehorsam. Gehorchen wird zur wert-gerichteten Entscheidung.
-
Widerspruch, Eigen-Sinn und Ungehorsam werden ernst genommen.
-
Eltern und Lehrer argumentieren; sie erklären
die Regeln, die sie aufstellen und setzen
sich mit den Kindern über wert-volles Handeln auseinander.
-
Unabhängiges Denken und Selbständigkeit werden unterstützt,
Kinder machen gute Erfahrungen mit dem Nein-Sagen und lernen,
für sich selbst zu sorgen..
-
Eltern, Lehrer, Erwachsene leben partnerschaftliches Verhalten
vor und halten dazu an, anderen zu helfen. Kinder können sich
mit zivilcouragierten Bezugspersonen identifizieren.
-
Familie und Schule unterstützen die Fähigkeit, sich in
andere einzufühlen.
-
Menschen, die „anders” sind, wird mit Toleranz
begegnet. Jugendliche werden ermutigt, nach moralischen Maßstäben
zu entscheiden, ohne nur zu hören, was andere vorschreiben.
-
In Familie und Schule werden gesellschaftliche und politische
Fragen diskutiert.
-
Entdeckendes Lernen in der Schule, Partner- und Gruppenarbeit, Kreisgespräch
und Diskussion, Projektunterricht, freier Aufsatz und freie Rede
machen eigenständig.
-
Mitbestimmung und Mitverantwortung der Schülerinnen
und Schüler in Unterricht und Schulleben ist eine Vorbereitung
auf demokratisches Handeln und politisches Mitgestalten.
6. Sozialer Widerstand als Tugend - Sich mündig seines Verstandes
bedienen
In unserer bedrohten Welt wird sozialer Ungehorsam lebenswichtig. Es
sieht so aus, als ließen wir uns fern-sehenden Auges in Katastrophen
treiben. Wenn der Fortbestand unseres Lebensraumes „Erde”
gefährdet ist, müssen sich Bürger wehren. Unrecht tut nicht
nur der, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert. Der
Befehl ist ein gefährliches Element im Zusammenleben. Menschen müssen
lernen, seine Inhalte kritisch anzusehen und sich ihm zu widersetzen,
wenn er gegen Humanität verstößt. Erlasse und Vorschriften
sind darauf hin zu prüfen, ob sie mit moralischen Maximen übereinstimmen.
7. Ohne Widerspruchsmut und Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt -
Standhaftigkeit
Durch Ungehorsam und Widerspruchsmut wachsen geistige Fähigkeiten.
Die Entwicklung der Menschheit setzte voraus, standhaft zu bleiben gegenüber
Autoritäten, die andere Ansichten und neue Ideen bekämpften.
Geistiges Wachstum war nur möglich, weil Einzelne ihrem Gewissen
und Wissen folgten und zu den Machthabern „Nein” sagten. Philosophen,
Religionsstifter, Naturwissenschaftler, Revolutionäre gewannen Erkenntnis
durch Akte des Ungehorsams. Sie folgten der Vernunft und verweigerten
den Befehl. Denken ist nicht nur eine Sache des Intellektes; es braucht
auch den Mut, sich gegen Autoritäten aufzulehnen. Um vom paradiesischen
„Baum der Erkenntnis” zu essen, war es notwendig, ungehorsam
zu sein.
8. Der Weg von sozialem Mut zu „Politik als praktizierter Sittlichkeit“
Wer Zivilcourage wagt, erweitert seine persönliche Freiheit; er
nimmt Chancen zu Selbstverantwortung und Mitmenschlichkeit wahr. Im Wissen
um den Wert seines Eingreifens hält er der Furcht stand und wehrt
sich gegen bürokratische Reglementierung. Bürgermut macht den
Einzelnen aktiv, stärkt das Selbstwertgefühl und festigt das
Gemeinschaftsgefühl. Zivilcouragierten Menschen liegt nicht nur daran,
für die eigene Person etwas zu verändern; sie strebt auch gesellschaftliche
Veränderungen an. Soziale Empfindsamkeit mündet in politisches
Handeln: „Politik als praktizierte Sittlichkeit”. An Stelle
des Machtprinzips tritt das Sympathieprinzip.
9. Bürgermut für den Frieden – Bedingung für das
Überleben der Menschheit
Im atomaren Zeitalter ist Frieden eine Bedingung für das Überleben
der Menschheit. Deshalb ist Friedlosigkeit eine seelische Krankheit, die
es zu heilen gilt. Auch dafür brauchen wir „die Freiheit, den
Mund aufzumachen“. Sie kann helfen, den Alltag menschlicher zu gestalten.
Heute muss jedoch jede soziale Überlegung die Frage einschließen:
Wie können wir Friedlosigkeit überwinden und das Leben auf der
Erde bewahren? Die destruktiven Kräfte der Gegenwart sind so gefährlich,
dass der notwendige Wandel des Bewusstseins nichts Geringeres als eine
Neu-Erziehung der Menschheit erfordert. „Politik“ muss vor
allem „Frieden machen“ bedeuten. Denn die Welt bedarf des
Friedens, wenn sie sich nicht selbst zerstören soll. An diesem Bewusstseinswandel
können wir mitarbeiten: die Bewegung auf die Katastrophe hin wahr
nehmen, den Schrecken nicht verdrängen, und sich mit sozialem Mut
einmischen.
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