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Kurt Singer: Leitgedanken zum Vortrag über Disziplin-Probleme im Unterricht

Disziplin-Probleme: Lehrer-Schüler-Konflikte gemeinsam regeln - Konflikten vorbeugen

Unterrichtsstörungen und Erziehungsschwierigkeiten bearbeiten - Konfliktfähigkeit lernen - Einsichtigen Gehorsam und Selbstdisziplin einüben

Diese Gedankensammlung soll Lehrerinnen und Lehrer anregen, ihre persönlichen Wege der Konfliktregelung zu suchen. Zum Teil überschneiden sich die einzelnen Punkte, einige Aspekte werden öfter benannt.

1. Bin ich als Lehrerin so, wie ich sein möchte? Das Lehrer-Selbstbild als Beweggrund pädagogischen Handelns

Wie Lehrerinnen und Lehrer in schulischen Konfliktsituationen handeln, hängt eng mit ihrer Lehrer-Identität zusammen: Bin ich in der Schule so, wie ich sein möchte? Oder muss ich eine „Rolle“ spielen? Versuche ich mein Ich-Ideal für das Lehrer-Sein zu bewahren und die Wirklichkeit dem Ideal anzunähern?

Lehrer, die ihre Ich-Identität aufrecht erhalten, haben in Konfliktsituationen einen sicheren Stand. Die von ihnen ausgehende Echtheit erleichtert es, Problemsituationen zu klären und zu bearbeiten. Wenn sich die Lehrerin echt verhält, ist sie als Person am stärksten.

2. Sich als Lehrer in Konflikt-Situationen begreifen lassen - Innehalten und die Beziehung klären

Lehrer neigen dazu, die Kinder auch dort zu „erziehen“, wo es hilfreicher wäre, die Beziehung zu klären. Im der Konflikt bearbeitenden Kontakt geht es nicht darum, auf Kinder einzuwirken, sondern sich als Lehrer erkennen zu lassen: eigene Wünsche auszudrücken, Freude oder Bedrückung mitzuteilen, Hoffnungen auszusprechen, Verletzungen erkennen zu lassen, auf persönlichen Grenzen zu bestehen. - Wenn sich Lehrer begreifen lassen, wird es den Kindern möglich, auf sie einzugehen, Rücksicht auf sie zu nehmen. Die Lehrertugend, sich in Kinder einzufühlen, braucht die andere Seite: Kindern muss es möglich werden, sich auch in Lehrerin oder Lehrer einzufühlen - und sie sollten zu diesem einfühlenden Denken angeregt werden. Das gehörte zum Erziehungsziel: Anständig mit den anderen umzugehen.

3. Zuhören ist eine Konflikt lösende Kraft: Die Einmaligkeit der Person erkennen - Sich selbst und die Schüler ernst nehmen

Lehrerinnen und Lehrer neigen dazu, Kindern „gut zuzureden“, sie zu belehren, sie zur Einsicht zu mahnen. Sie nehmen sich oft zu wenig Zeit, Schüler in Ruhe anzuhören: ihre Sicht zu erkunden, sie ausreden zu lassen, sich dafür interessieren, was das Kind denkt und empfindet, was es ängstigt und freut, zu hören, wie der Schüler den Konflikt sieht und erlebt; Anteil zu nehmen an seinen Sorgen und Schwierigkeiten, an Enttäuschung, Hoffnung, auch an Leistungsstolz. Lehrer, die dem Kind zuhören, können ihm beim Lernen besser helfen. Der Schüler fühlt sich ernst genommen; das stärkt seine Lernfähigkeit - und die Bereitschaft, seinerseits der Lehrerin zuzuhören. Denn „Zuhören“ ist eine Tugend, die auch die Schüler lernen sollen. In Konflikt-Situationen ist Zuhören ein wichtiges Element der Konfliktlösung.

4. Die Lehrer-Schüler-Beziehung als Grundlage der Konflikt-Bearbeitung - Bekanntschaft ist der Feind der Feindschaft

Wechselseitige Kontakte mildern bei Lehrern und Schülern Fremdheit und Ängste voreinander: in der Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts, vor und nach den Stunden, während des Unterrichts, in Pausen, bei Schullandheimaufenthalten, bei Lehrer-Eltern-­Schüler-Gesprächen, Wanderungen, Projekten. In pädagogisch strukturierten Tagesschulen bieten sich viele Möglichkeiten des „außerschulischen“ Kontakts: gemeinsam essen, spielen, arbeiten ... Wenn Schülersprechstunden eingerichtet werden, können Kinder mit dem Lehrer über das sprechen, wozu sonst keine Gelegenheit ist: über Lernprobleme oder persönliche Anliegen. Hoch geachtet werden von Jugendlichen die Lehrerinnen und Lehrer, „bei denen man etwas lernt“, „mit denen man reden kann“, die die Schüler ernst nehmen“, sie „anständig behandeln“ und für eine „gute Arbeitsdisziplin“ sorgen. Umgekehrt sind Lehrer über Schüler erfreut, die bereit sind zum Lernen, mit denen man reden kann, die den Lehrer ernst nehmen, ihn anständig behandeln und eine gute Arbeitsdisziplin einhalten.

5. Lehrer-Schüler-Konflikte gemeinsam bearbeiten - Frieden führen ist lernbar, auch in der Schule

Lehrerinnen und Lehrer können gemeinsam mit den Schülern konflikt-bearbeitende Erfahrungen machen wie diese:

  • Aus dem Machtkampf aussteigen, statt der Stärkere sein zu müssen.

  • Sich begreifen lassen mit dem eigenen Denken und Fühlen.

  • Einander zuhören, den anderen ausreden lassen, ihn aufmerksam wahrnehmen.

  • Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten; der Vergeltungsregel widerstehen: dem Schlag folgt kein Gegenschlag. Schlag-Fertigkeit stört die gewaltfreie Konfliktregelung.

  • Verständigung anstreben und mit dem Schüler im Kontakt bleiben. Wenn es nach einem Konflikt Sieger und Verlierer gibt, ist die Verständigung missglückt.

  • Feindbilder in der Lehrer-Schüler-Beziehung korrigieren, Freundbilder aufbauen.

  • • Kindern in Konfliktsituationen Halt geben: Grenzen aufzeigen, Orientierungshilfen vermitteln.

  • Konfliktregelung zum Lerngegenstand machen: Ursachen aufdecken und Wege gewaltfreier Auseinandersetzung einüben: Streiten und Diskutieren lernen, Streit schlichten, Mediation.

6. Ordnung im Schulalltag fördert die Arbeits-Disziplin - Feste Ordnungen sind eine Struktur gebende Hilfe für Lehrer und Schüler

Ordnung führt zu innerer Sammlung. Sie stärkt die Person des Schülers und die des Lehrers: Klare Ordnung des täglichen Tuns im Unterricht, der Dinge im Klassenzimmer, der Tätigkeiten im Lauf des Schultags, des Wechsels zwischen Denken und Handeln, Schreiben, Sprechen, Zuhören, Lesen, Einzelarbeit, Partnerarbeit, Kreisgespräch, Freiarbeit. Besser als nur zur Ordnung ermahnen, ist es: Ordnungen einzuüben. Statt Kinder zu disziplinieren, ihnen zu Disziplin verhelfen. Es geht um Ordnungsformen unter moralischen Maximen: Aufeinander Rücksicht nehmen, einander helfen, sich selbst „zusammennehmen“.

7. Gute Gewohnheiten ersparen Konflikte - Sie erleichtern das Lernen der Schüler und das Unterrichten des Lehrers und beugen Konflikten vor

Es ist hilfreich, gute Gewohnheiten einzuüben. Über das eingeübte Verhalten muss dann nicht immer wieder geredet werden. Dazu ist einsichtiger Gehorsam nötig und wohlwollender Zwang. Der hilft Kindern, Schwierigkeiten zu überwinden und zu erkennen, dass das eingeübte Verhalten sinnvoll ist. Es entlastet Lehrerinnen, Lehrer und die Schüler, Rituale und feste Ordnungen zu vereinbaren. Viele Gehorsams-Forderungen werden überflüssig durch gute Gewohnheiten. Was zur guten Gewohnheit wird, bedarf nicht eines erneuten Willensentschlusses durch das Kind oder einer Anordnung durch die Lehrerin.

8. Vereinbaren statt anordnen - Die Schüler in die Verantwortung für eine gute Ordnung ein

Folgende Schritte sind denkbar, wenn es sich um einen Konflikt handelt, der die ganze Klasse betrifft:

  • Lehrerinnen und Lehrer nehmen die Konfliktsituation bewusst war: „Jetzt möchte ich einmal genau ansehen, was da immer wieder abläuft.“

  • Sie teilen den Schülern mit, dass sie die störende Situation verändern wollen: Ich möchte ...

  • Die Schüler überlegen im Partner- oder Kleingruppengespräch, wie sich für sie die Problemsituation darstellt.

  • Sie machen sich Notizen darüber - als „Spur“ der Auseinandersetzung.

  • Zuhören: Die Lehrerin hört den Schülern zu. Ohne Kommentare oder Meinungsäußerung lässt sie die Schüler mitteilen, wie sie die störende Situation einschätzen.

  • Aus dem unbefriedigenden Ist-Zustand heraus erarbeiten Schüler und Lehrer gemeinsam Problemlösungen.

  • Die Vereinbarung für das Neue Handeln wird schriftlich festgehalten.

  • Schüler und Lehrer wachen darüber, dass die Vereinbarung eingehalten wird.

9. Mit den Schülern ein Arbeitsbündnis anstreben

Manche Lehrer neigen dazu, aus Angst vor einer undisziplinierten Klasse Konflikte vorbeugend zu unterdrücken. Zum Beispiel wollen sie sich durch anfängliche Strenge „Autorität“ verschaffen. Das versetzt sie in eine gespannte Haltung. Hilfreicher ist, sieh mit den Schülern über ein Arbeitsbündnis zu verständigen: Die eigenen Arbeitsvorstellungen mitteilen, Schüler in die Unterrichtsgestaltung mitverantwortlich einbeziehen. Nicht: „Was mache ich mit den Schülern?“, sondern: „Was können wir zusammen machen?“ - Berührung ist bekömmlicher als Panzerung. Das Arbeitsbündnis, der „Verhaltens-Vertrag“, der „pädagogische Pakt“, oder wie immer eine Vereinbarung heißen mag, ist sowohl zwischen dem einzelnen Schüler und dem Lehrer, wie auch mit der ganzen Klasse möglich.

10. Etwas wieder gut machen lassen wirkt besser als zu strafen –„Schlag-fertig“ zu sein, „zum Schlag fertig“, kann die Konfliktlösung erschweren

Lehrer denken in Konfliktsituationen schnell an Strafandrohung. Konsequenzen, Vergeltung. Dadurch wird die Schule zur Straf-Anstalt mit Verweisen, Nachsitzen, Strafaufgaben, Unterrichtsausschluss, unangesagten Proben, Notendruck. Hingegen führt es zu mehr Selbstständigkeit, Kindern bei einem Fehlverhalten die Chance zu geben, den Schaden wieder gut zu machen, etwas für die Versöhnung zu tun. Sie können dann Schuld abtragen, statt Schuldgefühle zu verstärken. Etwas wieder gut zu machen, hilft den Jugendlichen, sich vor der eigenen Aggressivität zu schützen. Der Lehrer kann dem Schüler vorschlagen, er solle selbst überlegen, wie er den Schaden wieder gut machen kann; oder in welcher Form die „Entschuldigung“ erfolgen kann, ohne dass sie nur oberflächlich formal ist. Es kann sich für den Lehrer als hilfreich erweisen, wenn er in einer Situation zunächst unsicher ist; aus der Unsicherheit kann dann durch ruhiges Überlegen etwas Neues entstehen.

11. Gute Arbeits-Disziplin braucht einsichtigen Gehorsam - Schüler müssen den Wert der Gehorsams-Inhalte erkennen

Kinder können nicht ohne Gehorsam aufwachsen. Sie wären ständig gefährdet; sie lernten die Wirklichkeit nicht einschätzen und entwickelten zu wenig Ich-Stärke. Halt-gebende Gehorsamserziehung respektiert den Eigensinn als eigenen Sinn. Sie nimmt die Heranwachsenden mit ihrem Wollen an, aber begrenzt sie dort, wo sie zu wenig Lebenserfahrung und Weltkenntnis besitzen. Je einsichtsfähiger Kinder werden, um so mehr lernen sie „sehenden“ Gehorsam. Autonomer Gehorsam ist kein Akt der Unterwerfung, sondern von Bejahung der Regeln des Zusammenlebens. Wenn ein Mensch allerdings nur gehorchen, und nicht auch Gehorsam verweigern kann, ist er ein Untertan. Erkennender Gehorsam bezieht das eigene Denken und Fühlen ein. Im Schulalltag ist es für Lehrer und Schüler wichtig, die wert-erfüllten oder wert-losen Inhalte des Gehorsams zu erkennen.

12. Wenn Lehrer von Schülern beleidigt werden: die persönliche Beleidigung zum Thema machen - Die Sache und die Konsequenzen klären

Oft springen Lehrerinnen und Lehrer über das Verletzende von Schüleräußerungen hinweg, wenn Jugendliche sie beleidigen: „Das ist doch ein Blödsinn, den sie da verzapfen.“ „Sie können mich mal.“ Wenn wir die Beleidigung in der verletzenden Beziehungssituation weglassen und gleich zu „Maßnahmen“ schreiten, kann der Schüler nicht erleben, was sein Fehlverhalten bewirkt hat. Er wähnt einen unangreifbaren Lehrer, dem der persönliche Angriff nichts anhaben kann. Wenn Jugendlichen hingegen merken, dass sie den Lehrer getroffen haben, wird es eher möglich sich zu verständigen und die Verfehlung konstruktiv zu bestrafen, nicht nur durch Entschuldigung, sondern durch Wiedergutmachung. Die Lehrerin sollte nicht nur erziehen, sondern sich schützen: „Du hast mich beleidigt, das dulde ich nicht ...“, „Ich möchte nicht, dass du mich anschreist.“ Wenn die Lehrerin zeigt, dass sie die Beleidigung „getroffen“ hat, kann das auch den beleidigenden Schüler „treffen“. Das Gleiche gilt für Auseinandersetzungen mit Schülereltern und Lehrerkollegen: die unmittelbare Beleidigung nicht übergehen oder „schlucken“, sondern dem andern bewusst machen, was er bewirkt hat. Gleichzeitig die Sache klären, um die es geht.

13. Auseinandersetzungen mit einzelnen Schülern nicht vor der Klasse austragen, sondern im Einzelgespräch

Es wird für Schüler wie Lehrer schwieriger, wenn Konflikte, die den einzelnen Schüler betreffen, vor der ganzen Klasse ausgetragen werden. Vor „Zuschauern“ müssen sich beide Seiten behaupten, das verschärft die Situation. Wirksamer ist es, mit Jugendlichen, die sich störend oder unanständig benommen haben, ein Einzelgespräch zu führen; das ermöglicht beiden größere Offenheit und einander wahrzunehmen. Dabei führt es meist in die Sackgasse, den Schüler zu fragen: „Warum hast du das getan?“ Denn es handelt sich um kein Verstandesproblem, sondern um ein emotionales: „Was hat dich so wütend gemacht?“ „Wie ging es dir dabei?“ „Sie kam es dazu, dass du mich so schlecht behandelt hast?“ „Mich hat das gekränkt, dass Sie vor der ganzen Klasse diese abfällige Bemerkung machten.“ „Können Sie versuchen, sich in meine Lage zu versetzen?“ In dieser Situation ist es dann auch möglich, Abmachungen zu treffen, die Form der Entschuldigung zu überlegen, die Wiedergutmachung, ein neues Handeln.

14. Hinter „schwierigen Schülern“ nicht die Klasse vergessen, sonst verstärken sich die Probleme und der Unterricht wird vernachlässigt

Manchmal haben Lehrerinnen und Lehrer nur noch die „Störer“ im Auge und verlieren die Mehrheit der Schüler aus dem Auge, die aufmerksam sein und mitarbeiten will. Sich überwiegend mit den Disziplinproblemen Einzelner zu beschäftigen, ist der Klasse gegenüber ungerecht. Deshalb müssen die Störungen Einzelner auch mit diesen in Einzelgesprächen besprochen werden, in denen die Grenzsetzung für deren Disziplinlosigkeit bearbeitet wird. Die Mitschüler müssen wissen: ,,Ich brauche hier eine gute Ordnung, damit ich gut unterrichten kann und damit Ihr gut lernen könnt. Dazu brauche ich eure Hilfe.“ Die Schüler müssen erkennen, wie sie sich selbst schaden, wenn sie für Störungen ein zustimmendes „Publikum“ sind.

15. Die Klasse in die Konfliktbearbeitung mit einzelnen Kindern einbeziehen

Die Probleme eines einzelnen Kindes können nicht nur zum Problem der Lehrerin, sondern auch zum Problem der Klasse werden: wenn ein Kind andere stört, andauernd dazwischen ruft, grenzenlos ist, aggressiv. Wenn die Klasse in solchen Fällen bereits „eingemischt'` ist, sollten wir dieses ,,Einmischen“ konstruktiv machen: im Kreisgespräch das störende Kind durch die Mitschüler mit seinem Verhalten konfrontieren, gemeinsam Wege suchen, wie die Klasse helfen kann und wie sich einzelne Schüler um das schwierige Kind annehmen können. Es geht darum, aus dem Lehrer-Schüler-Konflikt auch einen Klassen-Mitschüler­Konflikt zu machen und diesen gemeinsam bearbeiten.

16. „Verweise“ nicht formal, sondern persönlich halten - Sie sollten nicht Strafe sein, sondern Anstoß, etwas zu verändern

Vielfach werden „Verweise“, die Schüler wegen störenden Verhaltens bekommen, zur bürokratischen Maßnahme: formelhaft wird das „Vergehen“ den Eltern zur Kenntnis gegeben. In dieser Form sind „Verweise`' pädagogisch wenig sinnvoll. Wenn schon, dann sollten sie genau mitteilen, wie der Schüler gestört oder gegen Anstand und Ordnung verstoßen hat. Die Lehrerin sollte von sich aus nach einem Gespräch mit dem Schüler den Eltern schreiben, wie er sie zum Beispiel beleidigt oder durch welches Verhalten er den Unterricht gestört hat. Dann kann eine inhaltliche Auseinandersetzung und ein Austausch mit Eltern und Jugendlichen folgen, die helfen soll, das Verhalten zu korrigieren.

17. In den Schülern die gesunde Aggression entwickeln - statt nur die destruktive Aggression zu bekämpfen

Aggression gehört zum Menschen. Die gesunde Aggression zeigt sich im „Herangehen“ an die Welt: ausprobieren, fragen, untersuchen, sich mit Menschen und Dingen auseinander setzen, diskutieren, streiten, angreifen, sich zur Wehr setzen, spielerisch kämpfen, eigensinnig Ziele verfolgen, zupacken, die Erwachsenen kritisieren, sich selbst behaupten. Werden die gesund-aggressiven Impulse unterdrückt, kann es zu psychischer und körperlicher Krankheit kommen: zu destruktiver Aggression, Unterwürfigkeit, Nägelbeißen, Zähneknirschen, Bluthochdruck, Kopfschmerz und andere Symptome. Je mehr Kinder im Schul-Alltag gesunde Aggression entwickeln, desto weniger destruktive Aggression entsteht.

18. Schulisches Zusammenleben soll Unterrichtsthema sein: Schülerkritik, Lehrerkritik, Selbstkritik

Es verbessert die wert-erfüllte Beziehung, wenn Lehrerinnen und Lehrer mit Schülern regelmäßig über deren Lernzufriedenheit sprechen und ebenso über ihre eigene Freude oder ihr Unbehagen am Unterrichten. Das ermöglicht beiden Seiten, für eine befriedigende Lernsituation etwas zu tun. Schüler- und Lehrerfragen: Gehe ich in dem Bewusstsein nach Hause: ,,Heute habe ich etwas Neues gelernt“? - Freuen wir uns auf den nächsten Schultag? Arbeiten wir gut zusammen? - Begegnen wir uns freundlich? - Finden wir den Unterricht interessant? - Erleichtere ich den Lehrern das Unterrichten, und erleichtere ich als Lehrer den Kindern das Lernen? - Schüler sind „Experten“ in Fragen der Unterrichtsgestaltung. Lehrer können von ihnen für den Unterricht viel lernen. Schülerkritik verhilft dem Lehrer zu genauerer Selbst-Wahrnehmung und Stärkung seiner Identität. Bei den Schülern führt sie zu Selbstkritik, Kritikfähigkeit und Mitverantwortung.

19. Lebendiger und gut strukturierter Unterricht vermindert Disziplin-Konflikte

Kinder, die in der Schule einen ihr Leben betreffenden Lebens-Raum vorfinden, setzen ihre Energie nicht in Aggressivität um, sondern in konstruktives Handeln.

  • Sie entwickeln Interesse und werden zu Interessen angeregt.

  • Sie dürfen etwas „in die Hand nehmen“, handelnd lernen, selbst-tätig sein.

  • Das Wissen ist für sie jetzt anwendbar, sie erleben sich als kompetent.

  • Sie können das Lernen mit künftigen Zielen und Lebenswünschen verknüpfen.

  • Lernen hat etwas mit ihren Lebensfragen zu tun.

  • Lehrerinnen und Lehrer praktizieren „Mehrfach-Information“: Sie lassen die Schüler über unterschiedliche „Eingangskanäle“ lernen: anschauen, be-greifen, lesen, schreiben, sprechen, zuhören, Partnergespräch, Kreisgespräch, Einzelarbeit, Gruppenarbeit, spielen, zeichnen ...

Nichts beugt Disziplin-Konflikten wirkungsvoller vor als ein gut strukturierter, lebendiger Unterricht, in dem die Schüler aktiv sein können.

20. Freiarbeit im Unterricht beugt Konflikten vor und entlastet Lehrerinnen und Lehrer

Es hat sich gezeigt: Bei offenem Unterricht sind Kinder weniger aggressiv. Offener Unterricht ist gekennzeichnet durch viel freie Arbeit. Die Schüler können in bestimmten Phasen des Unterrichts ihre Aktivitäten mitbestimmen. Für dieses selbstbestimmte Lernen gibt es reichhaltige Unterrichtsmaterialien. Gelernt wird in Einzelarbeit, Partner- und Kleingruppenarbeit, Kreisgespräch, nicht nur im Klassenverband. Die Kinder und Jugendlichen bekommen die Chance, eigenverantwortlich zu sein. Sie erfahren den individuellen Lernfortschritt. Offener Unterricht ist Lernen durch Tun, er orientiert sich an Fragen und Interessen der Schüler. Dieser Unterricht verbessert die Leistungsfähigkeit und fördert die seelische und körperliche Gesundheit.

Lehrerinnen und Lehrer berichten, sie fänden solche gut vorbereiteten Freiarbeits-Zeiten für sich selbst entlastend: sie können sieh um einzelne Schüler kümmern, müssen nicht fortwährend die ,,Fäden in der Hand“ haben, können in Ruhe beobachten, was geschieht, können etwas „darüber stehen“.

21. Kreativität überwindet Destruktivität - Die produktive Eigen-Bewegung

Künstlerische Aktivität vermindert Gewaltbereitschaft: Freies Schreiben. Dichten, Malen, Musizieren Tanzen, Fotografieren, Theaterspielen, Pantomime, Filmemachen, Akrobatik, Handwerken.

  • Dabei fühlen sich Jugendliche ernst genommen; das hebt ihr Selbstgefühl. Sie werden ermutigt, aus sich heraus etwas zu schaffen.

  • Sie gestalten nicht nur mit dem „Kopf`, sondern mit Körper und Seele.

  • Dabei finden sie Zugang zu eigenen Stärken, die sie oft nicht kennen. Das wachsende Selbstvertrauen lindert aggressive Spannungen.

  • Überbordender Bewegungsdrang wird in Konzentration umgewandelt.

  • Raum für die kindliche Fantasie lassen

22. Pädagogischer Takt ist Grundlage der Konfliktbearbeitung - Rücksichtsvoll miteinander umgehen mit Kindern und Lehrern

Bei Lehrern, die sich taktvoll verhalten, können Kinder sicher sein, nie bloßgestellt, ausgelacht, nicht unvorhergesehen aufgerufen und ausgefragt zu werden. Schüler werden nicht beschämt, Zensuren und Fehler nicht öffentlich bekannt gegeben; Korrekturen erfolgen behutsam, um Schülerarbeiten nicht zu entwerten. Taktvolle Lehrer vermeiden es, Schwächen von Jugendlichen aufzuzeigen, Kinder durch Ironie oder Spott zu beleidigen. Fehler-Freundlichkeit ist nicht nur eine Frage des Taktes, sondern ein didaktisches Prinzip:

Aus Fehlern lernen, statt die Lernenden damit zu verurteilen. Durch den pädagogischen Takt erleben Kinder ein Vorbild dafür, wie sie mit ihren Lehrerinnen und Lehrern achtungsvoll umgehen können. Das ist eine Grundlage für die Erziehung der Schüler zu anständigem Verhalten. Der kategorische Imperativ sollte auch für die Schule bindend sein, in seiner volkstümlichen Form: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

23. Achtsamkeit baut Konflikten vor: Kinder brauchen ein aufrichtendes Wort - Lehrerinnen und Lehrer ebenso

Über das gute Wort erfahren Schüler, vom Lehrer akzeptiert zu werden; das stärkt ihren Glauben an sich selbst: ihr Selbstwertgefühl. Es festigt die Beziehung, wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht nur loben, sondern anerkennen: genau hinsehen, das Kind erkennen - als ganze Person. Das zustimmende Wort beflügelt, macht zuversichtlich und verbessert die Leistungsfähigkeit. Auf den Lehrer selbst strahlt die ermutigende Haltung positiv aus: Er kann freundlich sein; das ist weniger anstrengend als „Böse-sein“. Auch Lehrerinnen und Lehrer brauchen Zustimmung: von Schülern, Eitern, Vorgesetzten, Kollegen. Kinder und Jugendliche denken meist nicht an diese Wechselseitigkeit. Sie sollten deshalb erfahren, dass zur „kleinen Moral der Freundlichkeit“ auch das freundliche Wort für Lehrerin und Lehrer gehört. Das ist Unterricht zum Thema: „Besser miteinander leben“.

24. Das in der Schule vorherrschende Machtprinzip übt Macht auf Lehrer und Kinder aus - Das schafft mehr Konflikte, als es löst

,,Erziehungs-Macht“ ist notwendig, um eine Ordnung zu schaffen, die Schüler mit Erfolg lernen lässt und Lehrern ermöglicht, gut zu lehren. Dazu ist Gehorsam unentbehrlich. Er soll zunehmend zu einsichtigem und selbstbestimmtem Gehorsam führen, Disziplin soll zu Selbstdisziplin werden. Die Erziehungs-Macht entartet zum Macht-Missbrauch, wenn Lehrer Jugendliche klein machen, auslachen, ängstigen, demütigen, ihnen Fähigkeit absprechen, über ihre Bedürfnisse hinwegsehen, sie gefügig machen. Manche Lehrer üben die Abschreckung nicht böswillig aus. Sie greifen zur Macht aus Nothilfe, wenn sie keine pädagogischen Mittel kennen.

Über den Lehrer selbst wird durch die hierarchische Schulstruktur Macht ausgeübt: durch Unterrichtsgesetze und Erlasse, die ihn in seiner pädagogischen Freiheit einengen. Er muss vielfach gegen die Schüler arbeiten. Das bringt pädagogisch engagierte Lehrerinnen und Lehrer in Konflikt mit ihrem Lehrerbild. Denn um den durch das Schulsystem gestörten Kontakt zu den Kindern auszuhalten, müssen ihm die Schüler gleichgültig werden. Sonst könnte er sie nicht durch Zensuren demütigen, durch Sitzenbleiben kränken, durch die institutionalisierte Demütigung der Schwachen noch schwächer machen und durch frühe „Selektion“ zu kränken.

25. Die „Krankheit der Macht fordert einen hohen Preis - Der Verlust der Zugehörigkeit kann Kinder und Lehrer krank machen

Der hohe Preis der Macht ist zum einen, dass Kinder unterdrückt, institutionell gedemütigt, geängstigt, gekränkt und krank gemacht werden. Aber auch Lehrer selbst leiden an der „Krankheit der Macht“, durch die der absoluten Macht innewohnende Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit. Die vom Schulsystem auf den Lehrer ausgeübte Macht versetzt ihn in eine anstrengende Dauerspannung. Er unterliegt fortwährender Kontrolle, die er selbst wieder an die Schüler weitergeben muss. Er ist verpflichtet, zu lenken, alle Fäden in der Hand zu halten, den Lehrplan gegen das Widerstreben der Schüler „durchzuziehen“, unentwegt Kontrolle auszuüben durch Prüfen. Abfragen, Aussondern, Kinder zum Stillsitzen zwingen, Zensieren... Er muss seine Gefühle deformieren, indem er Schwache gnadenlos sitzen lässt, Benachteiligte noch mehr benachteiligt, den Schülern die vom Machtsystem der Schule vorgeschriebenen Kränkungen antut. Dass ihn all das selbst traumatisiert, zeigt sich in den vielen psychosomatischen Erkrankungen von Lehrern, die ihren Beruf vorzeitig aufgeben müssen.

26. Das Sympathieprinzip beugt Konflikten vor - Es fördert die seelische und körperliche Gesundheit von Schülern und Lehrern

Die unterrichtlichen Kontakte sollten vom Sympathieprinzip getragen sein, nicht vom Machtprinzip. Sympathie: Fähig sein, sich in andere einzudenken und einzufühlen, Mitleid, die Bereitschaft, spontan zu helfen. Mit dem Sympathie-Impuls nehmen wir an Kindern Anteil im Wortsinn des Teilens von Freude und Leid, Stärke und Schwäche, Geben und Nehmen. Umgekehrt ermöglichen Lehrerinnen und Lehrer den Schülern, sich in sie einzudenken: Sie lassen sich mit Denken und Fühlen erkennen, auch als Person. Die Frage nach der Macht weicht der Frage nach dem befriedigenden Zusammenleben.

27. Selbstverpflichtung zu einer schulpädagogischen Ethik - Die moralische Maxime des „Lehrer-Eids“ stärkt Schüler und Lehrer

Der Gründer der Bielefelder Laborschule, Hartmut von Hentig, schlägt vor: So wie Ärzte den hippokratischen Eid, sollten auch Lehrer einen Eid leisten: eine Selbstverpflichtung, in der sie versprechen, jedes Kind in seinen Eigenheiten zu respektieren, für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen, seine Regungen zu achten, ihm zuzuhören, es ernst zu nehmen. Sie verpflichten sich, Schüler die Kunst der Verständigung und des Verstehens zu lehren, sie bereit zu machen für Verantwortung in der Gemeinschaft. Lehrer leben vor, wie man mit Schwierigkeiten zurecht kommt, sie stellen sich der Kritik der Schüler und Sachkundigen und widersetzen sich allen Verhältnissen - auch Dienstvorschriften - welche die Verwirklichung humaner Wertvorstellungen verhindern. - Ein solcher Eid gäbe engagierten Lehrerinnen und Lehrern Richtung und Unterstützung in ihrem wert-erfüllten pädagogischen Handeln. Diese moralische Maxime fordert den Einzelnen auf, so zu handeln, dass er anderen nicht schadet. Sie bestärkt ihn darin, bei dieser Einstellung zu bleiben, auch wenn er sie nicht immer verwirklichen kann.

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