Lösungshefte –
für Schüler unzugänglich aufbewahren?
Brief an einen Schulbuch-Verlag
Prof. Dr. Kurt Singer
An den Cornelsen Verlag, Verlagsleitung
Anfrage: Weshalb verbieten Sie mir und anderen Bürgern,
Lehrer-Handbücher zu kaufen?
Sehr geehrte Damen und Herrn,
ich stand in einem Buchladen Ihres Verlages, umgeben von vielen hundert
Büchern, die zum Verkauf angeboten wurden. Ich hatte ein Buch in
Händen und wollte es erwerben. Ihre Buchhändlerin weigerte sich
jedoch, mir das Lehrer-Handbuch zum Unterrichtswerk „Englisch“
zu verkaufen. Sie richtete einen Blick auf mich, als führte ich Unrechtes
im Schilde. Ich fühlte mich nicht mehr als Kunde des Cornelsen-Verlages,
sondern als verdächtige Person.
Will man mich auf frischer Tat ertappen? Welcher strafbaren Handlung
verdächtigt mich der Cornelsen Verlag?
Ich zeigte das Buch vor, das ich kaufen wollte.
B (Buchhändlerin): Sind Sie Lehrer?
S (Kurt Singer): Nein.
B: Dann tut es mir Leid, das Lehrerhandbuch kann ich nur an Gymnasiallehrer
verkaufen.
S: Weshalb bekomme ich als Kunde dieses Buch nicht?
B: Es könnte damit Missbrauch getrieben werden.
S: Und welchen Missbrauchs bezichtigen Sie mich, wenn ich das Englisch-Begleitbuch
kaufe?
B: Das Buch könnte in die Hand von Schülern geraten.
S: Wieso ist es ein Missbrauch, wenn Schüler das Buch zum Lernen
verwenden. Was wäre daran so schlimm?
B: Die Schüler könnten Lösungen einfach abschreiben.
S: Halten Sie Schüler wirklich für so dumm, dass die nicht
bei der nächsten Klassenarbeit merkten, wie sie sich durch ein so
unvernünftiges Verhalten selbst schädigten? Verdächtigen
Sie denn die Schüler von vorne herein, sie benützten das Buch,
um zu betrügen? Können Sie sich nicht vorstellen, dass Schüler
lernen wollen; und dabei kann ihnen das Lehrerheft gute Dienste leisten.
B: Das kann schon sein, aber ich habe vom Verlag die Anweisung,
das Buch nur an Lehrer zu verkaufen.
S: Welche rechtliche Grundlage haben Sie, mir das Buch zu verweigern?
Ich lese nirgends einen Warnhinweis „Für Schüler und Eltern
unzugänglich aufbewahren“. Finden Sie es als Buchhändlerin
nicht befremdlich: Sie haben hier einen Stapel von diesem Buch liegen,
da steht der Preis, dort wird das Buch angepriesen, ich halte es in Händen
und Sie verkaufen es mir nicht ..."
B: Ja, Sie mögen schon recht haben; ich weiß nicht, das
muss eine interne Absprache sein.
S: Ich kann mir keinen ähnlichen Fall in einer Buchhandlung
vorstellen. Jedes Handbuch für Ärzte bekomme ich, ohne misstrauisch
gefragt zu werden, ob ich Arzt bin. Ich kaufe ein Buch über Atomphysik,
ohne von der Buchhändlerin beargwöhnt zu werden, nicht Atom-Physiker
zu sein und womöglich eine Atom-Bombe basteln zu wollen. Auch beim
Kauf eines Fachbuchs über Heizungstechnik muss ich mich nicht als
Heizungsmonteur oder Heizungs-Ingenieur ausweisen.
B: Ich kann ja nichts dafür, es ist halt eine Bestimmung des
Verlags.
S: Nochmals: Warum verdächtigen Sie mich, anstatt mir das Lehrer-Begleitbuch
zu verkaufen?
B: Es heißt, das Buch sollte nicht in die Hand von Nachhilfe-Lehrern
kommen.
S: Das verstehe ich jetzt überhaupt nicht. Das Gymnasium geht
doch davon aus, dass ein Großteil der Schüler Nachhilfe braucht.
Die Gymnasial-Lehrer finden es notwendig und selbstverständlich,
dass Schüler Nachhilfeunterricht nehmen. Ohne Nachhilfe-Unterricht
könnte der gymnasiale Unterricht schwerlich bestehen. Der Cornelsen
Verlag will also Nachhilfelehrern, Nachhilfe-Müttern, Lern-Instituten
und den vielfältigen Schüler-Hilfe-Einrichtungen das Nachhelfen
erschweren? In jeder Stadt und in allen Zeitungen lese ich in großen
Lettern: „Schülerhilfe“. Da muss also eine Not vorliegen
– und der Cornelsen Verlag will diese Not nicht lindern helfen?
So etwa verlief das Gespräch in Ihrem Informations-Zentrum.
Deshalb frage ich Sie, sehr geehrte Verlagsleitung: Weshalb verbieten
Sie Ihrer Buchhändlerin, mir das Buch zu verkaufen?
Was ist die rechtliche Grundlage dafür, mir das Lehrer-Begleitbuch
zu verweigern? Welches Gesetz wird hier in Anspruch genommen?
Was richtet das Buch Schädliches bei mir an?
Was kann ich Gefährliches mit dem Buch anstellen?
Welche psychologischen, pädagogischen und sittlichen Gefahren befürchten
Sie, wenn Schülerinnen und Schüler das Lehrer-Handbuch benützen?
Und wieso ist es verwerflich, wenn Schülereltern mit dem
Lehrer-Buch ihren Kindern helfen. Zumal PISA ausdrücklich bestätigt
hat, dass speziell im Gymnasium die Schüler von den Lehrern zu wenig
unterstützt werden.
Weshalb wollen Sie als Verlag den Schülern eine lernpsychologische
Hilfe verweigern, wenn Sie wissen, dass Jugendliche in der Schule so wenig
Lern-Hilfe erfahren, dass sie hunderttausendfach teuren Nachhilfeunterricht
brauchen?
Aus lernpsychologischen Gründen gehören Lösungshefte
in die Hand der Schüler - Wollen Sie Schülern das Lernen erschweren?
Aus anderen Ihrer Veröffentlichungen ersehe ich, dass Ihnen Lernpsychologie
nicht unbekannt ist: Schüler lernen erfolgreicher, wenn sie sofort
darüber informiert werden, ob sie eine Aufgabe richtig gelöst
haben. Die Sofortbekräftigung motiviert zum Lernen. Im Misserfolgsfall
sagt die Kontrolle dem Lernenden: Ich muss herausfinden, wo mein Fehler
liegt, oder ich muss mir Hilfe suchen, oder ich finde im Lösungsheft
Hinweise, wie die Aufgabe richtig gelöst werden kann. Der Schüler
kann aus seinen Fehlern lernen, wenn er durch das Lösungsheft darauf
gestoßen und nicht im Ungewissen darüber gelassen wird, was
er noch nicht kann. Es ist lernpsychologisch ungünstig, Schüler
in Unsicherheit darüber zu lassen, ob sie die Aufgabe richtig lösen
konnten. Die Sofortkontrolle regt zum Lernen an und verschafft
den Kindern ein Erfolgserlebnis. Dass ihnen der Erfolg bestätigt
wird, ist eine wichtige Voraussetzung für weiteren Erfolg.
Es wirkt sich lernstörend aus, Schüler länger als nötig
auf Fehlern „sitzen“ zu lassen. Denn jeder Fehler, den sie
nicht gleich korrigieren, prägt sich als Fehler ein. Lernpsychologisch
notwendig ist es, den Fehler zur Fehlerverhütung rasch zu
beseitigen und an seine Stelle das Richtige zu setzen. Die Lösungskontrolle
in der Hand des Schülers hat für ihn und den Lehrer eine aufklärende
Rückwirkung für das weitere Lernen. Der Schüler kann seine
„Soll- und Ist-Werte“ vergleichen und daraus Lernkonsequenzen
ziehen.
Auch pädagogische Erkenntnisse fordern die Kontrollmöglichkeit
– Weshalb verweigern Sie Schülern und Lernhelfern Unterstützung?
Die Schülerinnen und Schüler werden durch die Lösungshefte
zu Selbstständigkeit erzogen. Lösungs-Kontrollen in
ihrer Hand erfüllen eine alte reformpädagogische Forderung des
Deutschen Bildungsrates: „Ergebnisse und Zwischeninformationen müssen
in die Hand des Lernenden gegeben werden.“ Das klärt
für die Kinder und Jugendlichen die weiteren Lernschritte.
Der Schüler wird in die Lage versetzt, sich selbst einzuschätzen,
sein Lernwachstum zu beobachten. Er kann selbst prüfen,
wie nahe er an das Lernziel kam und muss nicht darauf warten, bis ihm
der Lehrer sagt, was richtig ist. Jedes Lernen hat zum Ziel, Schüler
anzuleiten, das Lernen selbst zu steuern, sie zum Selbststudium
zu befähigen.
Kontrollmöglichkeiten in den Lehrer-Begleitheften leisten einen
Beitrag dazu. Die Lehrer-Begleithefte in der Hand des Schülers wecken
die intellektuelle Neugierde: Stimmt mein Ergebnis? Wenn nicht:
Was muss ich lernen, um zur richtigen Lösung zu gelangen? Anstelle
der Angst über ein mögliches Versagen, tritt die Chance, Lernunsicherheit
zu beseitigen.
Ein didaktischer Vorzug ist: Lehrer-Begleithefte als Lernhilfe
für Schüler entlasten die Lehrerinnen und Lehrer
Diese können sich intensiver ihrer eigentlichen Aufgabe widmen:
dem Unterrichten. Sie haben mehr Zeit, den Schülern beim Lernen
zu helfen und vergeuden sie nicht mit zeitraubenden Kontrollen. Durch
Selbstkontrolle können die Schüler mit ihren Problemfragen und
Wissenslücken den Unterricht vorantreiben.
Ich halte es überdies für undemokratisch, Nicht-Lehrern
die Lösungs-Bücher zu verweigern
Das Verbot erscheint mir als Mittel der Machtausübung: Die Lehrer
werden durch den Verlag in ihrer Rolle als Wissende und Macht-Habende
dargestellt. Die Eltern, Nachhelfer und Schüler werden zu jenen degradiert,
denen das Wissen und die Lernhilfen der Lehrer-Bücher vorenthalten
werden soll. Das ist, finde ich, eine undemokratische Einstellung.
Ich sehe einen pädagogischen und moralischen Widerspruch auch darin,
dass Schüler, die auf Umwegen über bekannte Lehrer die Lösungshefte
in die Hand bekommen, das Gefühl haben müssen, sie begingen
etwas Verbotenes. Dabei wollen sie nichts anderes, als lernen,
um gute Noten zu bekommen. Es scheint mir unfair, dass der Verlag sehr
wohl den Lehrern die Beihefte verkauft, die vormittags in der
Schule unterrichten; denn unter ihnen sind auch solche, die das Lösungsheft
nicht nur in der Schule, sondern nachmittags in ihrem privaten Nachhilfeunterricht
verwenden. Obwohl gerade das, nach Ansicht des Cornelsen Verlags, so wie
es mir die Buchhändlerin wiedergegeben hat, nicht sein sollte: Nachhilfelehrer
dürfen die Bücher nicht bekommen.
Meine Frage an Sie ist also: Weshalb verkaufen Sie mir als freiem Bürger
der Bundesrepublik Deutschland das Lehrer-Begleitbuch nicht? Auf der Grundlage
welchen Gesetzes?
Jeder Verlag ist ein kaufmännisches Unternehmen.
Es müssen also schwerwiegende Gründe sein, dass Sie
auf den Verkauf verzichten, mich wegen meines Kaufwunsches verdächtigen
und ohne Buch aus dem Laden schicken.
Für Ihre Antwort, die mich aus persönlichen, juristischen, erziehungswissenschaftlichen
und demokratischen Gründen interessiert, danke ich Ihnen im Voraus.
Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. Kurt Singer
Univ.-Prof. für Pädagogische Psychologie und Schulpädagogik,
Psychoanalytiker
Antwort des Cornelsen Verlages
Sehr geehrter Herr Professor Singer,
Ihre Frage, warum wir Lehrermaterialien nicht auch an Nichtlehrer verkaufen,
ist relativ schnell beantwortet. In der Regel enthalten diese Materialien
als Service für die unterrichtenden Lehrkräfte Vorschläge
für die Klassenarbeiten, Tests oder anderen die Unterrichtsvorbereitung
entlastenden Aufgabenstellungen. Wir würden diesen Nutzen für
die Lehrerinnen und Lehrer beschädigen, wenn wir diese Materialien
auch Schülerinnen und Schüler bzw. deren Eltern zugänglich
machen würden.
Natürlich gelingt es dennoch einigen findigen Schülern, ab
und zu an solche Materialien heranzukommen, und wir im Verlag ernten dann
immer wieder erhebliche Kritik, dass wir dies nicht verhindern konnten.
Es wird also weiterhin so sein, dass wir Handreichungen für den
Unterricht und Lösungshefte, die wir nur und ausschließlich
als Servicematerialien für die mit den jeweiligen Lehrwerken unterrichtenden
Lehrerinnen und Lehrer produzieren, nur an diese abgeben und verkaufen.
Entscheidend dabei ist für uns, dass unsere Kernzielgruppe, nämlich
Lehrerinnen und Lehrer, dieses Verhalten von ihrem Verlag erwarten.
Ob das schulpädagogisch oder lernpsychologisch sinnvoll ist, ist
dabei definitiv nicht die Frage.
Ich hoffe, Sie können diesen Hintergrund zumindest teilweise nachvollziehen,
unsere Abgabebedingungen werden wir in diesem Punkt auf keinen Fall ändern.
Mit freundlichen Grüßen
Cornelsen Verlag
Wolf-Rüdiger Feldmann
Lernpsychologische und schulpädagogische
Argumente spielen keine Rolle –
schon gar nicht die Kinder
Auf diesen Antwortbrief könnte ich nur mit meinem oben angeführten
Brief antworten. Die Antwort des Cornelsen Verlages zeigt: Die Lehrerinnen
und Lehrer erwarten vom Verlag, Lehrer-Bücher für Schüler
und Lernhelfer unter Verschluss zu halten. Wird diese Erwartung nicht
erfüllt, „erntet der Verlag immer wieder erhebliche Kritik“,
wie der Verlagsleiter schreibt. Zwar delegieren Lehrer weiterführender
Schulen den Unterricht zum Teil an Eltern und Nachhilfe-Institute: „Ohne
Nachhilfe schaffst du das nicht“, heißt es. Bis zu einem Drittel
der Schüler wenden sich um Lernhilfe an teuer bezahlte Nachhelfer.
Auf der einen Seite wird also von der Schule der außerschulische
Nachhilfeunterricht vorausgesetzt. Gleichzeitig werden aber Müttern,
die als Privatlehrerinnen fungieren und anderen Nachmittags-Lehrern die
„Service-Materialien“ verweigert. Wo eigentlich Kooperation
zwischen Schule, Eltern und Nachhelfern vonnöten wäre, wird
Konkurrenz aufgebaut. Die Nachhelfer werden zwar gebraucht,
um den gymnasialen Unterricht zu retten. Zugleich behandelt man sie als
unerwünschte Konkurrenten, denen man das Nachhelfen erschwert.
Die Schule selbst erteilt keinen Nachhilfeunterricht, obwohl er genau
da hingehörte, wo gelernt werden soll: in den schulischen Unterricht.
Gleichzeitig verweigert die Schule den Eltern und Nachhilfe-Lehrern die
Unterstützung durch Lehrer-Materialien. Sie müssen zwar nachmittags
und in den Ferien die Mängel des offiziellen Vormittags-Unterrichts
ausgleichen, dürfen dabei aber nicht durch die Lösungshefte
unterstützt werden. Es handelt sich bei diesem Ausschluss der Lernhelfer
nicht um pädagogische Vernunft, das schreibt der Verlagsleiter unumwunden:
„Ob das schulpädagogisch oder lernpsychologisch sinnvoll ist,
ist dabei definitiv nicht die Frage.“ Definitiv ist demnach nicht
das pädagogische Prinzip, sondern das Machtprinzip. Deshalb
brauchte der Verlagsleiter sich auf eine lernpsychologische Argumentation
nicht einlassen. Vom „Nutzen der Lehrerinnen und Lehrer“ ist
die Rede, nicht vom Nutzen der Schüler und deren Eltern. Tatsächlich
hätten beide Seiten den Nutzen, wenn sie beim Nachhelfen
zusammenarbeiten würden. Dazu dürfte nicht Konkurrenz,
sondern müsste Zusammenarbeit das Schulklima bestimmen.
Deshalb müssten sich Eltern gegen solche Geringschätzung auflehnen,
und Lehrer müssten sich in pädagogischer Vernunft mit den Eltern
zusammenschließen.
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