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Prof. Dr. Kurt Singer

Brief an einen Studiendirektor –


Nach der Kränkung eines Schülers

NN.
Diplom-Psychologe

An den stellvertretenden Schulleiter
des Gymnasiums in Sch.
Herrn Studiendirektor M.

Ihr kränkendes Verhalten im Französischunterricht
gegenüber meinem Sohn Marc Z.

Sehr geehrter Herr Studiendirektor M.

Marc kam heute sehr verstört von der Schule nach Hause. Auf unsere Frage, weshalb er so bedrückt sei, wich er zunächst aus. Später berichtete er dann doch, was in Ihrer Französischstunde vorgefallen war. Er erzählte weinend, wie Sie ihn vor der Klasse gedemütigt haben. Ich zweifelte zwar nicht an dem, was mir Marc erzählte. Dennoch habe ich mich gleich an Mitschüler von Marc gewandt, um deren Sicht von dem Vorfall zu erfahren. Sie stimmte mit Marcs Darstellung überein. Ein Mädchen hatte die Situation bereits vorher spontan ihrer Mutter berichtet. Auch diese Mutter bestätigte mir, was ihr die Tochter erzählte.

Es war eine demütigende Situation, in die Sie das Kind versetzten

Sie fragten zu Beginn der Französischstunde das Wissen der Schüler ab. Mehrere Schülerinnen und Schüler konnten nicht so antworten, wie Sie es wünschten. Dann kam Marc dran. Auch er wusste nicht die richtige Antwort. Nachdem er hilflos dastand, kränkten Sie ihn mit der Bemerkung:

„,Nichts’ ist auch etwas, nämlich eine Sechs. So wie ich das sehe, wirst du ohnehin durchfallen. Das hier ist nicht der richtige Ort für dich. Vielleicht hinkst du ja in der Realschule hinterher, aber nach meiner Meinung wirst du auch da abstürzen, nämlich in die Hauptschule. Am Ende landest du als Müllmann bei der Müllabfuhr. Da machst du dir zwar die Hände schmutzig, aber du bekommst einen schönen leuchtend orangen Anzug. Nur etwas stinkig ist es halt. Das ist dann der Höhepunkt deines Lebens.“

Sie verletzten das Selbstwertgefühl meines Sohnes

Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, was eine solche Bemerkung in einem Schüler auslösen kann? Es verletzt seinen Selbstwert, und das Selbstwertgefühl ist eine Grundlage der Leistungsfähigkeit. Durch solch herabsetzende Worte wird es für den Jungen nicht leichter, Französisch zu lernen. Er fällt eher in Angst und Hoffnungslosigkeit ab, wie ich es in meiner Arbeit als Psychologe oft bei Jugendlichen erlebe.

Zudem finde ich es unfair, den Jugendlichen vor der Klasse bloßzustellen. Dass er sich angesichts dieser entwertenden Worte nicht zu wehren getraute, ist verständlich. Stellen Sie sich bitte vor, wie es wäre, einem Erwachsenen eine so verletzende Einschätzung seiner Person vor anderen zuzumuten. An dieser Vorstellung wird deutlich, wie unredlich es ist, ein wehrloses Kind mit kleinmachenden Worten zu blamieren.

Sind Sie informiert darüber, ob mein Junge „durchfallen“ wird? Es gibt ja neben Französisch noch andere Fächer. Kennen Sie Marcs letztes Zeugnis? Dieses legt nicht die Gefahr des „Durchfallens“ nahe. Aber selbst wenn dem so wäre, ist es schlimm für ein Kind, mit seiner Schwäche erniedrigt, statt unterstützt zu werden.

Das war kein „Benimm-Unterricht“, sondern ein schlechtes Vorbild für die Schüler

Derzeit wird viel über „Benimm-Unterricht“ geredet und geschrieben. Ich stimme dem zu, Kinder zu anständigem Verhalten anzuleiten, Rücksichtnahme auf andere zu üben, sie über den Wert von Höflichkeit aufzuklären, mit ihnen gemeinsam Anstand zu lernen. Für den Erfolg dieses „Unterrichts“ ist allerdings auch entscheidend, dass Erwachsene die Tugenden vorleben, die sie von Kindern erwarten. Ihren Französisch-Schülern haben Sie durch Ihr Verhalten gegenüber Marc gezeigt, dass man Schwächere vor anderen demütigen kann, dass man ihnen nicht hilft, sondern sie bloßstellt, dass ein Lehrer seine ihm gebührende Erziehungs-Macht dazu missbraucht, ein Kind zu erniedrigen. Das ist kein pädagogisch wertvolles Vorbild, wie es die Schülerinnen und Schüler von Lehrern und Eltern erfahren sollten, um eine moralische Gesinnung auszubilden.

Ich finde auch die in Ihrer Bemerkung enthaltene Abwertung gegenüber jenen Männern ungerecht, die mit den Müll-Autos unseren Abfall wegfahren. Schließlich kann ich froh sein, dass sie eine Arbeit machen, die für uns alle wichtig ist. Diese Tätigkeit dem Schüler als „das Letzte“ vorzuführen, was ihnen in ihrer Schullaufbahn beschieden sein kann, drückt nicht nur eine Nicht-Achtung gegenüber Marc aus, sondern ist auch eine Herabsetzung der Männer von der Müll-Abfuhr, die diese Arbeit leisten.

Ich schreibe Ihnen auch deshalb, weil wir als Lehrer – ich war früher selbst Lehrer – oft nicht genug die Schüler-Sicht erkunden. In der Betriebsamkeit des Schulalltags denken wir zu wenig daran, dass ein einzelnes Kind heute Mittag beunruhigt, gekränkt, verunsichert nach Hause geht, weil wir ihm – womöglich unbedacht – eine Sechs voraussagten, sein Scheitern ankündigten, ihm eine schlechte Zukunft ausmalten, seinen Selbstwert in Frage stellten. Und mit einem Angriff auf sein Selbstwertgefühl kann dieses Kind nicht gut lernen; denn es bräuchte vom Französisch-Lehrer Hilfe, statt Verurteilung.

Ihre negative Lehrer-Erwartung kann Marc sehr belasten

Sie drohten Marc mit „Durchfallen“, der Entlassung aus dem Gymnasium, mit dem „Abstieg“ in die Realschule oder Hauptschule, also mit dem Verlust der Zugehörigkeit. Es ist es für das Kind eine schwere Bürde, das Misstrauen des Lehrers in seine Lernfähigkeit zu spüren. Wo er sich ohnehin im Fach „Französisch“ schwer tut, bräuchte Marc Ermutigung, statt kränkender Bewertung und düsterer Voraussagen.

Ihre Worte gegenüber Marc stellen eine negative Erwartung dar, die sich negativ auswirken kann. Aus vielen psychologischen Untersuchungen wissen wir, wie sich die Lehrer-Erwartung ganz konkret auf die Leistung der Schüler auswirkt. Bei zuversichtlicher Einstellung des Lehrers gegenüber den Schülern werden die Kinder nachweislich tüchtiger.

Andererseits zeigten die psychologischen Befunde, dass sich negative Erwartungen und Voraussagen von Lehrern auf die Schüler leistungsmindernd auswirkten. Die Jugendlichen können im Klima negativer Erwartungen nicht die Leistung erlangen, zu der sie fähig wären.

Nicht nur in der pädagogisch-psychologischen Literatur, sondern auch in der erzählenden, schön-geistigen Literatur wurde das Thema „Du sollst dir kein Bildnis machen“ immer wieder in ihrer Problematik dargestellt. Deshalb halte ich es für pädagogisch verwerflich, meinem Sohn eine negative Zukunft vorzuhalten, die ihn in seinem Selbstbewusstsein verletzt.

Kinder brauchen ermutigende Lehrer-Worte – sie brauchen auch Ihr Mut machendes Wort!

In meiner Arbeit als Psychologe erlebte ich immer wieder, wie Lehrer-Worte über Jahrzehnte hinweg haften können: „Gute“ Lehrer-Worte konnten lebens-leitend werden und die Person stärken. Aber auch verletzende Lehrer-Worte wirken oft lange nach, sie können auf Kinder wie Gift wirken und Narben zurück lassen, die sie als Erwachsene noch schmerzen.

Deshalb bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Studiendirektor, meinen Sohn nicht mehr bloß zu stellen und zu demütigen. Die nächste Gelegenheit, in Ihre Sprechstunde zu kommen, werde ich wahrnehmen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie Verständnis für mein Anliegen zeigten.

Mit freundlichen Grüßen

NN.
Diplom-Psychologe

Der Brief hat Marc das Leben erleichtert –
Vielleicht auch dem Lehrer?

Viele Eltern meinen, es habe keinen Zweck, sich als Eltern gegen Lehrer zu wehren. Ihr Gefühl der Ohnmacht entstammt meist der eigenen Schulzeit, in der sie als Schüler ohnmächtig waren. Jetzt verharren sie in einem Totstell-Reflex und geben sich selbst und den Kindern keine Chance, etwas zu verändern: „Ich kann ja doch nichts erreichen.“ Viele fürchten sich davor, sich mit dem Lehrer auseinander zu setzen. Diese Angst ist verständlich, sie ist nicht leicht zu überwinden. Statt zu warten, bis die Angst geringer wird, gibt es nur eines: Die Angst zu akzeptieren und mit der Angst das Gespräch zu riskieren, um etwas für das schulische Wohlbefinden des Kindes zu erlangen.

Das taten Marcs Eltern. Der Studiendirektor schrieb einen langen Antwortbrief. Er wollte zwar die Situation anders erlebt haben, als die Kinder sie darstellten. Und er versuchte, sein Verhalten zu bagatellisieren, aber er zeigte sich gesprächsbereit. Die Eltern ließen sich im Gespräch mit ihm nicht auf einen Überzeugungs-Machtkampf ein. Sie sagten ihm, was sie dachten, sie berichteten, wie sich die Kränkung auf Marc auswirkte, und sie ließen erkennen, wie sie sich als Eltern mit Marcs Demütigung fühlten. Sie blieben fest bei ihrem Wunsch, dass sich eine solche Herabsetzung nicht wiederhole.

„Bekanntschaft ist der Feind der Feindschaft“ –
Im Kontakt mit dem Lehrer bleiben

Eltern und Lehrer besprachen dann auch die speziellen Lernschwierigkeiten des Jungen im Französisch-Unterricht, und wie sie verringert werden können. Sie vereinbarten, sich nach einer bestimmten Zeitspanne wieder darüber zu verständigen.

Der Lehrer schien insgeheim froh zu sein, keine weitere Auseinandersetzung führen zu müssen. Im Folgezeitraum demütigte er Marc nicht mehr. Es gab kein Anzeichen dafür, dass Herr M. den Schüler benachteiligen wollte, eher das Gegenteil. Die Mitschüler berichteten, er wäre ihnen gegenüber behutsamer geworden. Die Eltern hatten sich selbst, dem Jungen, der Schulklasse und dem Lehrer eine Chance gegeben. Marc erlebte: „Meine Eltern stehen zu mir.“ Und sie gaben ihm ein gutes Beispiel für Zivilcourage.

Ein Ergebnis des Widerspruchsmuts von Eltern und des Versuchs der Verständigung ist immer dies: Das Gespräch macht beide Seiten aufmerksamer. Der Lehrer – in der Regel hat er viel zu viele Kinder zu unterrichten – nimmt den Schüler deutlicher wahr. Außerdem merkt er: Hinter dem Schüler stehen Eltern, die sich für den Schulfortgang und für das persönliche Wohl des Kindes interessieren. Manche Lehrer würden unpädagogisches Handeln vermeiden, wenn Sie spürten: Vor mir sitzen nicht nur „unmündige“ Kinder, sondern hinter diesen Kindern gibt es eigenständig denkende und zu Engagement bereite Eltern. Diese nehmen Anteil an der Schularbeit und nehmen auch das Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer wahr. Sie begeben sich nicht in die Rolle angepasster Untertanen, sondern überwinden ihre Autoritätsängstlichkeit und stellen sich schützend vor ihre Kinder.

30.Juli 2004

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