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Lob des Ungehorsams
Vom Mut, nein zu sagen: Fragen an den Psychoanalytiker und Pädagogen Kurt Singer

von Andrea Teupke

Publik-Forum: Der Mensch sei böse von Jugend an, heißt es einmal in der Bibel. Herr Professor Singer, ist der Mensch eher gut oder eher böse?

Kurt Singer: Das ist eine schwierige Frage, aber ich denke, wir können den Menschen besser machen. Jedem Menschen ist das sogenannte Böse, die Aggression, eingeboren; aber wir müssen dafür sorgen, dass dieses „Böse“ zur gesunden Aggression wird. Gesunde Aggression meint, dass Menschen aktiv zupacken, sich körperlich bewegen, dass sie lernen, sich zu wehren und sich geistig auseinander zu setzen, dass sie Selbst-Behauptung entwickeln; dann brauchen sie keine Gewalt anwenden. Ich finde die Frage, wie wir die gesunde Aggression entwickeln können, viel produktiver, als immer nur zu fragen, wie wir Aggressivität und Gewalt bekämpfen.

Publik-Forum: Was brauchen Kinder, um diese gesunde Aggression zu lernen?

Kurt Singer: Sie lernen es von Anfang an, wenn man ihnen möglichst viel Raum für Eigenbewegung gibt. Körperliche Bewegung ist ein existenzielles Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen. Sie sechs Stunden am Tag auf Stühle zu setzen und passiv zuhören zu lassen, schädigt ihre gesunde Aggressionsentwicklung. Stark gefährdet ist sie auch durch unmäßiges Fernsehen. Nicht nur wegen gewalttätiger und inhumaner Inhalte, sondern auch dadurch, dass Kinder stundenlang bewegungslos, oft wie in Trance, vor dem Fernsehgerät sitzen.

Für die Schule bedeutet der Blick auf die konstruktive Aggression: Sie sollte keine Redeschule und Zuhörschule sein, was sie heute immer noch ist, sondern eine Arbeitsschule, in der Kinder handelnd lernen. Sie dürfen etwas anpacken, „angreifen“, „in Angriff nehmen“. Sie dürfen selbst tätig sein und Eigenes gestalten.

Zur gesunden Aggression gehört auch, ein selbstbewahrendes Nein auszusprechen. Kinder müssen ermutigt werden, Nein zu sagen, um sich selbst zu schützen. Dann können sie später überzeugt Nein sagen, wenn etwas verlangt wird, das gegen ethische Normen verstößt. Sie lernen nicht blinden, sondern eigenständigen, wert-erfüllten Gehorsam.

Publik-Forum: Eigenständiger Gehorsam? Das klingt wie ein Widerspruch!

Kurt Singer: Mit eigenständigem Gehorsam meine ich, den Gehorsam zu überprüfen: Ist das, was mir befohlen wird, auch recht? Und wenn nicht: Traue ich mich zu widersprechen? Widerspruchsmut ist eine zu wenig gepflegte Tugend. Wenn ich Eltern oder Lehrer frage: »Wann haben Sie ein Kind zum letzten Mal gelobt, weil es ungehorsam war?«, werden sie meist stutzig. Dabei beruht jede geistige und technische Weiterentwicklung auch auf dem Schwimmen gegen den Strom. Ohne Ungehorsam gibt es keinen Fortschritt!

Publik-Forum: Das Milgram-Experiment hat gezeigt, dass die meisten Menschen eher andere foltern, als sich dem Befehl einer Autorität zu widersetzen. Wieso ist es so schwer, nein zu sagen?

Kurt Singer: Es ist vor allem die Angst, allein zu stehen: Ich bin nicht mehr geborgen durch die Gruppe, sondern muss allein verantworten, was ich tue. Wenn ich mich hingegen dem Mächtigen beuge, bin ich geschützt. Selbst wenn ich »sündige«, kann mir nichts passieren, weil der, der die Macht hat, mir verzeihen und mich schützen kann. Es ist die durch Familie und Schule früh eingewurzelte Autoritätsangst, die zu Autoritätshörigkeit führen kann. Die daraus hervorgehende Gehorsamsbereitschaft hat weitreichende Konsequenzen; Erich Fromm meinte, unsere Erde könnte am Gehorsam zu Grunde gehen, weil unsere moralische Entwicklung weit hinter der technischen – etwa der Atombombe – hinter her hinkt.

Publik-Forum: Liegt das wirklich nur am Gehorsam, oder gibt es nicht auch eine Faszination des Bösen, eine Lust an der Zerstörung?

Kurt Singer: Es gibt tatsächlich Menschen mit sadistischen Zügen, die andere mit Lust quälen, weil sie selbst an einem „verhärteten Herzen“ leiden. Deren seelische Energie wurde fehlgeleitet in die destruktive Aggression. In den Milgram-Experimenten zeigte sich, wie die Versuchspersonen, denen befohlen wurde, die Opfer mit elektrischen Schlägen zu quälen, in seelische Not und moralische Zweifel gerieten. Dennoch machten sie weiter, wenn der Versuchsleiter es befahl, obwohl sie spürten, dass es nicht recht ist. Sie konnten der pseudowissenschaftlichen Autorität nicht widersprechen. Es zeigte sich allerdings, dass die Hemmung, anderen Leid zuzufügen, umso stärker wird, je größer die Nähe zum Opfer ist.

Publik-Forum: Heißt das, Menschen neigen zwar zu Mitgefühl, werden aber durch Gehorsam daran gehindert?

Kurt Singer: Ja. Rousseau war der Meinung, die allen gemeinsame Menschennatur läge nicht in der Vernunft, sondern in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Meine Interviews mit »zivilcouragierten« Menschen zeigten mir, dass Mitleid eine wesentliche Triebfeder dafür ist, sich zu widersetzen, wenn Unrecht geschieht: Aus Mitleid erwächst Zorn und der Impuls, helfend einzugreifen.

Publik-Forum: Sind es besonders mutige Menschen, die zu Widerstand neigen?

Kurt Singer: Zivilcouragierte Menschen sind keine Draufgänger. Ich habe viele erlebt, die eher ängstlich sind, aus ihrer Angst erwächst ihnen die Kraft zum Widerstand. So sind Frauen oft zivilcouragierter als Männer. Das mag mit deren größerem Einfühlungsvermögen zusammenhängen. Bei Männern spielt öfter das Rationale eine handlungsleitende Rolle: Ziele wie Gerechtigkeit oder Frieden werden verfolgt. Frauen hingegen geben häufiger Mitgefühl als Motiv an, den Gehorsam zu verweigern, um Menschen beizustehen.

Was ich immer wieder fand, war die feste Orientierung an menschlichen Grundwerten wie Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Menschenwürde. Bei Untersuchungen über Menschen, die anderen unter Lebensgefahr geholfen haben, etwa im Warschauer Getto, zeigte sich: der Grundantrieb war, »menschlich anständig« zu sein und die Not von Menschen zu lindern. Ich genierte mich oft, wenn ich nach den Motiven des Ungehorsams fragte und die Befragten so bescheiden antworteten: »Ich wollte einfach das tun, was mir als richtig erschien, ich konnte doch nicht wegschauen.« Solche Bescheidenheit erlebte ich bei vielen Menschen mit zivilem Mut.

Publik-Forum: Welche Rolle spielt dabei das Elternhaus?

Kurt Singer: Eine Studie untersuchte, wieso amerikanische junge Männer den Kriegsdienst in Vietnam verweigerten, obwohl sie damals mit hohen Strafen rechnen mussten: Die allermeisten von ihnen hatten ein Gehalten-werden, eine ganz sichere Zugehörigkeit in der Familie erlebt. In diesen Familien wurde viel über Wertfragen und politische Probleme nachgedacht.

Sophie Scholl beispielsweise hatte Eltern, die Widerspruchsmut ausdrücklich förderten. Ihr Vater war engagierter Antifaschist. Er duldete dennoch die Meinung seiner Kinder, die zunächst begeistert waren von der Hitlerjugend. Die Eltern Scholl verurteilten ihre Kinder nicht wegen ihres anderen Denkens, aber ließen sich selbst mit ihren Wertvorstellungen deutlich erkennen. Sie übten keinen Druck aus, aber sagten klar, was sie dachten und was sie für Recht und Unrecht hielten. Vater Scholl war der Meinung, Kinder müssten viel Eigenbewegung haben. Er wollte zum Beispiel immer große Wohnungen, damit alle genügend Bewegungsfreiheit hatten und damit man auch »aneinander vorbeigehen kann«. Die körperliche und geistige Eigenbewegung ist ein wichtiges Element für zivilen Mut.

Die Geschwister Scholl kamen auf der Grundlage der einander tolerierenden Auseinandersetzung dann selbst zu der Erkenntnis, wie verwerflich das nationalsozialistische System war. Als Sophie Scholl in der Widerstandsgruppe Die weiße Rose gegen den Nationalsozialismus kämpfte, schrieb sie in einem Brief: »Wir müssen den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen.«

Publik-Forum: Was müsste geschehen, damit mehr Menschen Zivilcourage entwickeln?

Kurt Singer: Das wesentliche Element in der Erziehung ist: Kinder ernst nehmen. Es ginge darum, Eltern und Lehrern aufzuzeigen, mit Jugendlichen achtungsvoll umzugehen. Sie nicht zu blamieren, ihre Schwächen nicht bloßzustellen, im Unterricht niemals eine Arbeit vorzulesen, ohne das Kind um Erlaubnis zu bitten, also den pädagogischen Takt zu wahren. Das für ethisch begründeten Ungehorsam wichtige Selbstwertgefühl darf nicht verletzt werden. Eltern können schimpfen, und Lehrer dürfen wütend werden, aber – und das ist ein pädagogischer Imperativ, den ich aufstellen würde – sie dürfen Kinder nicht demütigen, nicht »klein machen«. Ein Kind auszulachen ist ein Verbrechen, sagte der berühmte Arzt und Pädagoge Janusz Korczak.

Die Schule hätte viele Möglichkeiten, Zivilcourage zu fördern, aber das wird zu wenig getan. Es gilt, das eigene Denken der Schüler zu fördern, ihre eigenen Themen ernst zu nehmen. Wenn unter einem Aufsatz »Thema verfehlt!« steht, hat meist der Lehrer das Thema verfehlt; denn er hat nicht das getroffen und ermöglicht, wozu das Kind etwas auszusagen hat! In Modellschulen zeigte sich, dass Kinder durch handelndes Lernen, durch künstlerische Aktivitäten, durch freien Aufsatz und freie Rede eigenständiger werden und mehr Selbstvertrauen entwickeln. Dieses Selbstvertrauen ist die Grundlage für Ich-Stärke und damit für mehr Widerspruchsmut und weniger Gehorsamsbereitschaft.

Dafür könnte man Schulstrukturen schaffen, die Kinder zu freiheitlichem Denken führt – und sie damit gleichzeitig leistungstüchtig macht. Aber die Eltern, die durch ihre Vielzahl am meisten politische Macht ausüben könnten, trauen sich nicht, sich für eine demokratische Schule einzumischen, die gibt es bis jetzt noch nicht. Und viele Politiker finden Kinder nicht wichtig genug, um sich für ihre Unversehrtheit und für ihre Mitsprache einzusetzen!

Publik-Forum: In den 40 Jahren, seit Milgram sein Gehorsams-Experiment entwickelte, hat sich vieles verändert. Macht Sie das nicht optimistisch?

Kurt Singer (schweigt lange): Nein, ich teile das Erschrecken der Bio-Ethikerin Christine von Weizsäcker. Sie berichtet von dem Versuch eines Neurophysiologen. Der nahm aus einem Fischschwarm einen Fisch heraus und durchtrennte ihm die Nervenleitungen zum Gehirn. So konnte der Fisch die Mitwelt nicht mehr wahrnehmen. Als der Forscher diesen hirnamputierten Fisch ins Wasser zurücksetzte, schwamm der wie wild im Zickzack hin und her. Und was geschah? Der gesamte Schwarm folgte ihm! Christine von Weizsäcker sagte dazu, manchmal habe sie den Eindruck, als würden wir wie hirnamputiert Befehlen folgen, ohne hinzuschauen, wer uns denn befiehlt, und was uns befohlen wird, und ob das für den Menschen gut ist.

Das hier leicht redigierte Interview erschien in Publik Forum, 2003, Nummer 2

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