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Prof. Dr. Kurt Singer

Die heimliche Gewalt der Schule – staatlich gefördert?

Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt,
Warum nicht das Flussbett, das ihn einengt?
Bertolt Brecht

Mathematiklehrer Falkenstein und Benjamins Sadismus-Tag

Wenn wir weniger Gewalt wollen, müssen wir weniger Gewalt ausüben; auch in der Schule. Dann sollten wir uns öffentlich empören über Benjamins Sadismus-Tag. Der Schüler schreibt: »Der Wecker läutet. Es ist ein widerlicher Klang. Es klingt nach Mathematik. Voraussichtlich nach Note 6 … Lehrer Falkenstein sagt, er sehe für meine Zukunft schwarz … Ich wäre einfach zu blöd … In letzter Zeit nimmt er mich häufig dran. Weil er weiß, dass ich nichts verstehe. Das befriedigt ihn irgendwie. An einem ganz normalen Ausfrage-Tag sucht Falkenstein mit stechendem Blick ein Opfer. Langsam erhebt er sich von seinem Lehrerstuhl. Der Schweiß läuft mir über die Stirn. Ich will nicht ausgefragt werden. Warum sagt er nicht gleich, wer drankommt? Oder warum trägt er mir nicht gleich einen Sechser ein? Warum muss er mich so quälen? Ich hasse es, vor der Klasse zu rechnen. Ich blamiere mich immer. Falkenstein stellt so richtig gemeine Fragen. Ich zittere. Weiß gar nichts mehr, die wenigen gespeicherten Brocken aus dem Unterricht sind der Aufregung zum Opfer gefallen. Ich scheiße mir schon fast in die Hosen. Mein Magen bläht sich auf. Gänsehaut huscht über meinen Körper. Ich komme dran. Es muss ja so sein. Falkenstein sagt mit tiefer kräftiger Stimme: ›Lebert! So zeigen Sie uns, wofür ich so lang geredet habe.‹ … Ich hasse es, wie er ›Lebert‹ sagt. So, als wolle er mich erschießen. Als brächte er mich zum Galgen … Wie in Trance erhebe ich mich zur Tafel. Falkenstein macht ein paar Angaben … Jetzt muss ich die Aufgabe lösen. Warum stehe ich eigentlich hier? … Male ein Zeichen. Zwei. Einen Kreis. Falkenstein ist nicht zufrieden. Er entlässt mich auf meinen Platz. Nach dem Unterricht sagt er: ›Das mit deinem Abschluss kannst du vergessen . Wie ich es sehe, müssen wir froh sein, wenn das Kultusministerium für dich keine Note 8 einführt.‹ Er grinst ein großes, breites Grinsen. – Die Schule ist ein Psycho-Krieg.« Diesen Bericht schreibt der 16-Jährige Benjamin Lebert in seinem autobiographischen Roman „Crazy“.

Abfrage-Folter: Gewalt durch kränkende Lehrer-Bemerkungen

Mit dem quälerischen Abfrage-Zeremoniell bricht ungehindert Lehrer-Aggressivität über Jugendliche herein, nicht versteckt, sondern öffentlich. Die heimliche Gewalt verbirgt sich in der Umgebung. Kein Ethiklehrer sagt dem verächtlichmachenden Kollegen, dass dieser ethische Grenzen überschreitet: Wo doch Ethik der Bruch mit der Gleichgültigkeit ist, die Möglichkeit des Einer-für-den-Andern. Alle schauen weg; Schulbehörden lassen persönlichkeitsverletzendem Treiben freien Lauf. Sie überwachen eher freiheitlich denkende Lehrer. Die Kinderfeindlichkeit drückt sich in dem Satz aus: »Das sind ja nur Einzelfälle.« Als bestünde die Achtung vor der Würde des Menschen nicht darin, jedes Kind in seinen Persönlichkeitsrechten zu schützen.

Die achtungsvolle, gewaltlose Beziehung ist Thema vieler Gespräche, die ich mit Jugendlichen führe. Sie meinen, Verächtlich-Machen gehöre zum Schulalltag: »Unmöglich, jetzt hast du das immer noch nicht kapiert.« – »Wie dumm du dich wieder anstellst!« – »Deutsch scheint nicht gerade deine Stärke zu sein.« – »Eine so miserable Lateinklasse hab ich noch nie erlebt.« – Worte können töten: das Vertrauen und die Lernfreude. Es ist der Hochmut der Mittelmäßigkeit, in dem einzelne Lehrer Kinder als minderwertige Wesen behandeln, um sich selbst aufzuwerten. Und alle lassen es zu.

Keinesfalls verallgemeinere ich Einzelbeispiele destruktiven Lehrerverhaltens. Seit Jahrzehnten arbeite ich wöchentlich mit Lehrerinnen und Lehrern in Gruppen und in Einzelberatung; ich begleite mit Respekt deren pädagogisches Engagement. Die demütigenden Lehrer sind der Rede wert, weil es sich um viele Kinder handelt, die von der Wortgewalt weniger Lehrer geschädigt werden. Lehrer, die ihre Macht missbrauchen, wirken zudem als Krankheitserreger in das Schulsystem hinein.

Sebastian wird vom Gift herabsetzender Lehrerworte krank gemacht

Der Schüler fühlte sich von der geringschätzigen Frage des Lehrers verfolgt: »Was hast du denn auf dem Gymnasium zu suchen?« – Solch ausstoßende Worte bedrohen Kinder mit dem Verlust der Zugehörigkeit; sie wirken wie Gift: »Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut«, schreibt der Philosoph Victor Klemperer: »Sprache kann aus giftigen Elementen gebildet oder zu Trägern von Giftstoffen gemacht werden. Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Manche Menschen leiden lange Zeit unter winzigen Arsendosen, die ihnen Lehrer durch herabsetzende Worte verabreichten.

Sebastian galt in der Grundschule als interessierter Schüler. Auf dem Gymnasium verlor er durch den herabwürdigenden Lehrer allen Mut. Der Oberstudienrat liest bei jeder Aufsatzbesprechung mangelhafte Arbeiten vor, ohne die Jugendlichen um Erlaubnis zu bitten. Er sucht missglückte Sätze heraus und stellt Kinder namentlich bloß. Wenn er Klassenarbeiten heraus gibt, gleicht das einem Schauprozess: es geschieht in der Reihenfolge der Zensuren, begleitet von ironischen Kommentaren. Es ist die personale Gewalt durch Worte, eingebettet in die heimliche Gewalt; denn: Kein Deutschkollege empört sich öffentlich über die psychische Folter. Durch diese lernen Schüler nicht Aufsatzschreiben; sie lernen, wie man Menschen mit Schwächen an den Pranger stellt. Wo doch Schreiben auf Beziehung aufgebaut ist, ein Ausdrucksmittel, das sich an den Anderen richtet. – Alle im Schulhaus sind daran beteiligt, dass der Oberstudienrat die Grundrechte außer Kraft setzen darf. Oder stimmen Sie Erich Kästners Satz nicht zu: »An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.« Sebastian schreckt wegen des gewalttätigen Lehrers nachts auf, bringt beim Frühstück kaum einen Bissen hinunter. In seinen Kopfschmerzen wurde der ihm angetane psychische Schmerz zu körperlichem Schmerz. »Das Kind ist zu sensibel«, hieß es. Stößt die Schule feinfühlige Menschen aus? Oft scheint es so.

„Zu sensibel“ fürs Gymnasium?

Michael: »Die Schule war die schlimmste Zeit meines Lebens« (Michael Ende).
Heinrich: »Und ich schleppte all die Jahre die Fünf hinter mir her, wie ein Sträfling die schwere Kugel an seinen Füßen« (Heinrich Böll).
Günter: »Lehrergestalten hatten sich raumgreifend in meinen Träumen breitgemacht. Meine Schulzeit war prägend für mich. Narben blieben, die geheilt noch juckten« (Günter Grass).
Susanna: »Für mich waren die Schuljahre die schlimmsten meines Lebens, wegen des ständigen Gefühls der Ohnmacht« (Susanna Tamaro).

Die schlimmste Lebenszeit? Wie ein Sträfling behandelt? Lebenslang schmerzende Narben? Ständige Ohnmacht? Mich bewegt, dass Schülerinnen und Schüler im Jahr 2002 dieselbe seelische Not ausdrücken, wie Jugendliche vor fünfzig Jahren oder einem Jahrhundert. Dem Schüler Sebastian raubte das kleinmachende Lehrerverhalten sein Selbstvertrauen. Für ihn verwirklichte sich Erich Frieds »Rückschau in die Kindheit«:

Ich war ein Berg
den hat die Welt bestiegen
Ich musste ihr unterliegen
Ich bin ein Zwerg

Leute, ihr lacht
denn ihr versteht das nicht:
Mich hat ein großes Gewicht
klein gemacht

Davids Erniedrigung durch den Lehrer - eine Straftat

Manche Erniedrigung, die Einzelfälle gewalttätiger Lehrer als »Pädagogik« auslegen, erweist sich als Straftat: Beleidigung, Ehrverletzung, üble Nachrede, Verleumdung, Missachtung des Persönlichkeitsschutzes. Jugendliche können die Menschenrechte nicht einklagen; nur selten wagen es die Erwachsenen für sie. Davids Eltern nahmen nicht hin, dass ein Grundschullehrer das Selbstwertgefühl ihres Kindes verwundete. Der Lehrer verspottete den Schüler und gab ihn dem Gelächter der Klasse preis. Auf die Kränkungen hin nässte David nachts ein und weinte viel. Die psychische Lehrer-Gewalt beschädigte Seele und Körper.

Richterin und Richter des Landgerichts erkannten einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Sie ahndeten das ehrverletzende Verhalten mit einem Schmerzensgeld von 1.600 Mark und 645 Mark Schadenersatz. Vielleicht waren sie der Überzeugung des Talmud: »Jemand der einen anderen vor Zeugen demütigt, ist als sein Mörder anzusehen.« Die Strafe für die begangene psychische Verletzung ist unverhältnismäßig milde; aber sie macht das Unrecht deutlich: die Verletzung der Kinderrechte. Heimliche Gewalt? Ja: Die Lehrer-Gewalt wird auch bei offenkundigem Unrecht staatlich gefördert. Behörden fanden keinen Grund, den Lehrer zu disziplinieren. »Vater Staat« sorgt für seine gehorsamen Diener auch dann, wenn sie seelische Gewalt praktizieren und damit gegen das Gesetz verstoßen. Der verurteilte Lehrer fügte dem Kind fahrlässig Schmerz zu; das Schmerzensgeld aber zahlte das Land. Den taktlosen Lehrer verwöhnte der Staat fürsorglich, dem psychosomatisch beschädigten Kind stand er nicht bei. Durch solche Strukturen bleibt die Schule – in „Einzelfällen“ - ein moralfreies Feld.

Das destruktive Lehrerverhalten sogenannter „Einzelfälle“ bleibt tabu

Ein Erziehungswissenschaftler wollte das Phänomen »Lehrergewalt« untersuchen. Die Behörden verweigerten ihm den Zugang zu Schulen. Pädagogik-Experten preisen ihre Denkschrift »Schule der Zukunft«. Aber die Denkschrift bewegt Schulpolitiker nicht zum Denken oder gar zu pädagogisch vernünftigem Handeln. Zudem gelangen in die Schule kaum Spuren von Demokratie, durch die Schüler und Eltern mitbestimmen könnten. Hier herrscht Macht. Und wo sich Macht ausbreitet, braucht man nicht mehr pädagogisch zu denken. Man kann unkontrolliert Gewalt ausüben, Zensurengewalt zum Beispiel. Schüler und Lehrer nennen die Nötigung unverhüllt beim Namen: der Lehrer zieht die Notenschraube an, ein Folterinstrument?

Auch Erziehungswissenschaftler tasten das Tabu gewaltausübender Lehrer nicht an. Ein Bildungsexperte hielt ein Referat über die moderne Schule. In der Diskussion fragt eine Schülermutter mit bebender Stimme: »Mein Kind hat eine Lehrerin, vor der fürchtet es sich so sehr, dass es jeden Morgen Bauchschmerzen bekommt. Auch andere leiden unter Bauchangst; sie werden bloßgestellt, die Schwachen niedergemacht, die Langsamen verhöhnt.« Der Professor antwortet: »Solche Lehrer muss man aussterben lassen.« Schallendes Gelächter. Wir lachen manchmal, wenn es zum Weinen ist. Die Mutter stand verlegen da; das Tabu des kinderverletzenden Lehrerverhaltens blieb wieder einmal unangetastet.

Dieser fortschrittliche Erziehungswissenschaftler ist Teil heimlicher Schulgewalt. Das bauchwehgeplagte Kind soll warten, bis seine sadistische Lehrerin wegstirbt? Ich sprach ihn auf den unbarmherzigen Satz an. Darauf: »Ja, Sie haben ja recht, ich kenne die Schulen und sehe, dass an jeder Schule schlimme Formen von Macht-Missbrauch durch Lehrer herrschen. Aber …« - Aber, fahre ich fort: Es mangelt an Zivilcourage, für den menschlichen Umgang mit Kindern öffentlich einzutreten. Lernstörendes Handeln wird in Schweigen gehüllt. Tabus bewirken Stagnation; die Denkverbote halten den Erkenntnisstand auf niedrigem Niveau, wie die praktizierte Schulpädagogik zeigt. Tabus lassen das Unrecht-Tun als selbstverständlich erscheinen: überraschend angesetzte Tests, Androhung schlechter Noten, öffentliches Bekanntgeben von Zensuren, Angstmachen, amtlich verordnete Langeweile durch lebensferne Stoffpläne … Es ist dann wie in Bertolt Brechts Gedicht:

Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt,
Dann ruft niemand mehr: halt!
Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar.
Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr.
Auch die Schreie fallen wie der Sommerregen.

Wir bitten euch ausdrücklich, findet
Das immerfort Vorkommende nicht natürlich

Vorschriftsmäßige Verletzung - durch die heimliche Gewalt der Schulstrukturen

Das immerfort Vorkommende nicht für natürlich halten? Schulische Gewalt zeigt sich in kleinmachendem Lehrerverhalten besonders deutlich. Das tabuierte achtungslose Benehmen gegenüber Schülern verweist aber gleichzeitig auf den gewaltstrukturellen Hintergrund; zum Beispiel: Es gibt wenig sadistische Lehrer. Aber stiftet es nicht zu seelischem Sadismus an, achtjährige Kinder vorschriftsmäßig mit Noten zu kränken? Die Kränkung ist Lehrern ministeriell verordnet. Diese organisierte Lieblosigkeit trifft die Schwachen, als hätten die keine Würde zu verlieren. Manche Lehrerinnen mildern die Härte. Sie wissen: Kleine Kinder zu zensieren, stört deren Lernentwicklung. Aber diese Erkenntnis dürfen zensierende Lehrer meist nicht merken. Sonst müssten sie mit pädagogischem Sachverstand gegen die pädagogische Unvernunft rebellieren, und das macht Angst. So lassen sie sich demütigendes Verhalten vorschreiben und müssen Kinder pflichtgemäß ängstigen. Die heimliche Gewalt der Schulstruktur bewirkt die personale Gewalt, besonders der machtbehauptenden Lehrer.

Nach Albert Einstein wird manches Gymnasium benannt. Er zeigte den Zusammenhang zwischen Schulstruktur und Zwang klar auf. Aber eifern Lehrer und Schüler Albert Einsteins Humanismus nach? Er schreibt: »Am schlimmsten ist es, wenn die Schule mit den Mitteln von Furcht, Zwang und künstlicher Autorität arbeitet. Solche Behandlung vernichtet das gesunde Lebensgefühl, die Aufrichtigkeit und das Selbstvertrauen. Sie erzeugt den unterwürfigen Untertan. Es ist einfach, die Schule von diesem schlimmsten aller Übel frei zu halten: Man gibt dem Lehrer möglichst wenig Zwangsmittel in die Hand. Dann ist die einzige Quelle des Respekts der Schüler vor dem Lehrer dessen menschliche und intellektuelle Qualität.« Üblich ist das Umgekehrte. Lehrern wird eine Fülle staatlicher Zwangsmittel verordnet, um das schlimmste aller Mittel zu schüren: die Angst. Zum Beispiele Katjas Angst.

Katja: Ihr Lehrer befreit sie von der Angst vor dem Aufgerufen-Werden

Ein Studienrat entdeckte bei sich die heimliche Schulgewalt. Katja ängstigte es, während des Unterrichts plötzlich aufgerufen zu werden; die Angst blockierte ihr Denken. Sie sagt: »Es geht mir wie dem Kaninchen vor der Schlange; ich bin gelähmt. Auch wenn ich gut gelernt habe, scheint das Gelernte wie verflogen. Ich fange an zu stottern und fühle mich hilflos.« Ich frage Katja, ob sie ihre Furcht vor dem Aufgerufen-Werden dem Lehrer nicht mitteilen könne. »Das bringt ja doch nichts«, meint sie, »der Lehrer muss schließlich Noten machen; er kann mich nicht bevorzugen, wenn ich mir wünsche, nicht ungefragt aufgerufen zu werden.« Die Schülerin ist bereits Opfer der Pathologie schulischer Normalität; sie hat sich die heimliche Gewalt einverleibt. Ich sage zu ihr: »Wenn du zum Lehrer hingingst, wüsste der mehr von dir. In meiner Arbeit mit Lehrergruppen erlebe ich, wie ernst Lehrer kritische Anfragen von Jugendlichen nehmen.«

Katja sprach mit dem Lehrer; der hörte sich den Kummer an. Es tat ihm leid, die Jugendliche zu ängstigen. In sein Mitleid mischte sich persönliches Erleben aus eigener Schulzeit. Er sah eine Schülerin von nah, die er oft von fern bekämpfte, ohne das zu wollen. Der Studienrat hatte Mitleid. Aber ist Mitleid angebracht, wenn ein Mädchen nur Angst vor dem Ausgefragt-Werden hat? Für Rousseau offenbart sich die allen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid: in einem eingeborenen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen. Diesen Widerwillen, einen Mitmenschen leiden zu sehen, spürte der Studienrat angesichts Katjas Kummer. »Aber woher die mündlichen Noten nehmen?« Der Lehrer, selbst nie zufrieden mit der bedrängenden Ausfragerei, wollte diese Schülerin nur noch aufrufen, wenn sie sich meldete. Er dachte auch mit der Klasse darüber nach, wie das Problem der mündlichen Note spannungsfreier zu lösen sei. Das Ergebnis: Die Jugendlichen wollten sich künftig auf mündliche Kurzprüfungen vorbereiten und freiwillig melden.

Mit sozialem Mut aus der heimlichen Gewalt des Schulsystems heraus treten

Katja war von ihrer lernstörenden Abfragefurcht befreit. Ihre Energie konnte jetzt für das Lernen fruchtbar werden, und wurde nicht durch Angst aufgezehrt. Auch andere Kinder konnten entspannter am Unterricht teilnehmen. Die Mitarbeit, so berichtete der Gymnasiallehrer, wurde nicht geringer, sondern lebhafter. Er selbst fühlte sich befreit, weil er Unterricht und Prüfung trennte. So konnte er sich auf den Lernvorgang konzentrieren, auf die Sache und die Schüler. Er fungierte nicht als Dauerprüfer, sondern als Lehrer. – Ich selbst habe so lange ich Lehrer war kein Kind aufgerufen, das sich nicht meldete. Oder wie wäre das für Sie, wenn ich Sie während eines Vortrags plötzlich aufrufen würde? Fänden Sie das nicht taktlos? Heimliche Gewalt.

Dieser Lehrer tanzte mit sozialem Mut aus der Reihe des Kollegiums – und erntete Vorwürfe: »Wo kämen wir hin, wenn jeder das Abfragen abschaffte?« Aber er fand auch Zustimmung. Da kämen wir hin: zu weniger Gewalt, zu haltgebenden Beziehungen, zu besserem Lernen, achtungsvollem Umgang. Der Studienrat wagte gegenüber den Kollegen »Tapferkeit vor dem Freund«. In der Beziehung zur Schulklasse erlebte er, dass es weniger anstrengend ist, freundlich zu sein. Das beschreibt Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Die Maske des Bösen«:

An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack
Mitfühlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
wie anstrengend es ist, böse zu sein.

Der Lehrer begann, heimliche Gewalt abzubauen an der Stelle, an der er es vermochte. Dadurch brachte er mehr Demokratie in das Unterrichtsgeschehen, und mehr Menschlichkeit. Er ließ sich nicht verbieten, sich seines Verstandes zu bedienen und pädagogisch vernünftig zu handeln. Allerdings – so Bertolt Brecht: „Das Vernünftige bricht sich nicht von selbst Bahn. Es setzt sich nur so viel Vernunft durch, wie die Vernünftigen durchsetzen. Besser als gerührt sein, ist, sich rühren.“

Oder?

Erstveröffentlichung in:
Erziehungskunst. Zeitschrift zur Pädagogik Rudolf Steiners, Oktober 2002

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