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Kurt Singer

„Den Lehrer bring ich um!“


Karls Kränkung - Beinahe ein Amoklauf?

Seelischer Sadismus ist die Befriedigung, einen anderen Menschen zu demütigen und seine Gefühle zu verletzen. Es wird nicht körperliche Gewalt angewandt, sondern „nur“ psychische Gewalt durch Worte. Das dabei erlebte seelische Leid des Gequälten kann intensiver sein als das körperliche. Der Sadist braucht Situationen, in denen sich ein Schwächerer gegen die seelische Grausamkeit eines Stärkeren nicht wehren kann, das ist zum Beispiel die Situation des Schülers in der Schule.

Erich Fromm

Ein ganz normaler Junge will den Mathematik-Lehrer töten

Was ist das für ein Schüler? Alle mögen den Fünfzehnjährigen, unter seinen Klassenkameraden ist er wohl gelitten. Er hat Freunde und gehört einer Jugendgruppe an. Mit ihr war er im Zeltlager, machte bei Umweltaktionen mit, zuletzt beim „Bach ausräumen“ und beim „Frühjahrsputz im Hasenhölzl“. Karls Schulleistungen sind zufriedenstellend. Deutsch mag er besonders, da brachte er es auf die Note 2, in Englisch steht er auf 3. Mathematik ist mit der Note 5 sein Problemfach. Er fürchtet den Mathematikunterricht, und er fürchtet den Mathematiklehrer. Karls Klassenlehrerin lobte den Schüler in der Sprechstunde: „Wenn ich lauter Schüler wie Karl hätte, könnte ich besser unterrichten.“ Auch andere Lehrer sprachen wohlwollend über ihn.

Eltern und Schwester leben gut mit Karl zusammen. Es gibt allerdings ein Problem, das den Jugendlichen belastet: er ist zu dick. Zwar kann man ihn als freundlichen, „etwas pummeligen“ Jungen gut ansehen. Aber sein Übergewicht passt ihm selber nicht. Die Eltern reden behutsam mit ihm darüber, einige Mitschüler spielen gelegentlich auf seine Körperfülle an, aber nicht bösartig. Alles in allem lebt Karl in einer positiv gestimmten Situation. Über diese freundliche Normalität bricht folgendes Ereignis herein.

„Der Lehrer war so gemein zu mir!“ –
Karl gerät in blindwütende Aggression

Mittwoch Vormittag in einer Kleinstadt. Die Mutter weiß ihre beiden Kinder in der Schule. Sie arbeitet zu Hause an ihrem Schreibtisch, es ist Viertel vor elf. Plötzlich schreckt Frau C. hoch, jemand klingelt ungewöhnlich stürmisch. Sie öffnet die Tür, vor ihr steht ihr Sohn, verstört und bleich, außer sich vor Wut brüllt er: „Den Lehrer bring ich um!“ Tobend rennt er durch die Wohnung. Die Mutter steht fassungslos da; so hatte sie ihren Jungen noch nie erlebt: “Wenn ich den Lehrer allein vor mir hätte, erschlagen würde ich ihn. Nie wieder gehe ich zu diesem gemeinen Kerl in die Schule!... Wenn ich nur eine Pistole hätte!“

Die Mutter versucht, Karl zu beruhigen; sie gerät selber in Panik, was ist denn passiert, was ist los? Als sie versucht, den Jungen in den Arm zu nehmen, schlägt der Wutausbruch in verzweifeltes Weinen um. Karl erzählt schluchzend, weshalb er von der Schule weg rannte und nach Hause lief. Und was ging voraus?

Täglich die bange Frage der Schüler:
„Läuft die Mathematikstunde so bedrohlich ab wie immer?“

Die Unterrichtsstunde beginnt wie jeden Tag: „Wer muss heute an die Tafel?“ fragten sich insgeheim die Schüler. Wird es sein, wie in jeder Mathematik-Stunde? Die Klasse fürchtet nämlich das ängstigende Zeremoniell und die quälerische Methode des Lehrers. Der Studienrat fragt die Schüler nicht, ob sie bereit sind, an der Tafel vorzurechnen, sondern überrascht sie: „Komm du doch mal an die Tafel!“ Lächelnd holt er einen Jugendlichen vor die Klasse und stellt ihm eine Aufgabe, meist eine zu schwere. Er wartet eine Weile; dazu meint ein Schüler: „Ich habe den Eindruck, als würde er das Vorspiel genießen“. Dann stellt Herr T. die Aufgabe. Um die Spannung zu vergrößern, spricht er betont langsam. Wenn er merkt, wie hilflos der „Aufgerufene“ wird, lässt er ihn eine Weile stumm stehen. „Nun, wo sind deine klugen Gedanken?“... „Du brauchst nicht nach oben zu schauen, der Himmel sendet dir keine Hilfe... Ich kann warten... Herr T. lässt den Schüler ungerührt „zappeln“, ehe er ihn auf den Platz schickt: „Ich sehe, du hast dich um die Note Sechs verdient gemacht.“

„Du bist zu dick!“ – Der Jugendliche wird vom Lehrer schwer gekränkt und bloßgestellt

Und wie läuft es heute ab? Die Klasse übt gerade Prozentrechnen. „Wen von uns trifft die ,Tafel-Folter’?“, so nannten die Schüler die quälerische Form, an der Tafel geprüft zu werden. „Hoffentlich nimmt er mich nicht dran“, war auch Karls angstvoller Gedanken. Als hätte er es geahnt: es traf ihn, er war tatsächlich „dran“: „Nun, Müller, begib du dich an die Tafel und zeig uns deine mathematischen Fähigkeiten. Ich habe speziell für dich eine Aufgabe ausgedacht. Mal sehen, wie du dich dabei anstellst.“ Karl schlurft mit hängendem Kopf an die Tafel. „Die Textaufgabe lautet“, sagt der Lehrer, spöttisch lächelnd: „Karl Müller hat starkes Übergewicht...“

Karl erzählt im Nachhinein: „Bereits bei diesem Satz zog es mir den Magen zusammen. Ich merkte, wie ich ganz schwach in den Knien wurde und zitterte, aber ich wollte mich zusammenreißen. Als wäre es ganz fern, hört ich, wie einige in der Klasse kicherten“. Der Lehrer sprach weiter: „Müller ist zu dick, weil er zu viel isst. Nun muss er abnehmen. Gegenwärtig wiegt er 61 Kilogramm, sein Normalgewicht wäre 56 Kilogramm. Frage: Um wie viel Prozent ist Müller zu dick? Oder: Um wie viel Prozent muss er abnehmen?“

„Seine Worte trafen mich wie Schläge“ –
Seelischer Unfall durch einen seelisch verletzenden Lehrer

Karl sagt später: „Ich stand wie gelähmt und konnte die Hand mit der Kreide gar nicht hoch heben. ,Das kann doch nicht wahr sein’, schoss es mir durch den Kopf, darf mich der vor der ganzen Klasse so fertig machen? Seine Worte trafen mich wie Schläge und der spöttische Ton, in dem er mir die Aufgabe stellte, war gemein. Die Klassenkameraden schwiegen. Es entstand eine unheimliche Stimmung im Zimmer. Erst allmählich kam ich zu mir, als wäre ich bewusstlos gewesen. Da stand ich jetzt als Fettsack am Pranger. Ich merkte ein Würgen im Hals und war nahe daran loszuheulen. Aber ich wollte alles tun, um die Tränen zu unterdrücken. Ich weiß selber nicht, wie es kam: plötzlich rannte ich wie ein Wilder aus dem Zimmer.“

Der gedemütigte Jugendliche ist seelisch verunglückt, das machte ihn für Augenblicke bewusstlos: „Als wäre ich zusammengefahren worden“, sagt er. Der Zusammenprall mit dem sadistischen Lehrer traf ihn an seiner verwundbaren Stelle: dem körperlichen Mangel, zu dick zu sein. Er schämte sich ohnehin wegen des Übergewichts, immer wieder versuchte er abzunehmen, aber er schaffte es nicht. Das belastete seine Selbstachtung. Genau auf diese zielte der Studienrat mit seiner Lust, den Schüler zu demütigen. Als Karl nach kurzer „seelischer Taubheit“ zu sich kam, konnte er nur noch flüchten. Ohne Schultasche und Mantel rannte er zur Tür hinaus und hetzte durch die Straßen. Atemlos kam er zu Hause an und schrie wütend seine Morddrohung heraus.

Das soll ein „Spaß“ gewesen sein? –
Die Mutter schützt ihren gedemütigten Jungen

Die Mutter nahm den Jungen mit seiner Verzweiflung, seinem Zorn und seiner Not an, hörte ihm zu, hielt ihn fest. Sie nahm seinen zerstörerischen Gefühlsausbruch ernst und besprach mit ihm, was sie weiter tun könnten. Der Junge wollte am nächsten Tag nicht zur Schule gehen. Die Eltern akzeptierten das. Karls Mutter sprach gleich in der Frühe beim Mathematiklehrer vor. Dieser verweigerte das Gespräch; er habe heute keine Sprechstunde. Die Mutter ließ sich nicht zurückweisen, sie beharrte auf einem Termin noch an diesem Tag. Nur widerwillig ließ sich Lehrer darauf ein, als er hörte, es ginge um sein taktloses Verhalten.

In dem dann folgenden Gespräch zeigte Karls Mutter dem Lehrer auf, in welch beschämende Situation er den Jungen gebracht, und was er damit angerichtet hatte. Sie schilderte ihm die sadistische Szene, so wie sie Karl erlebte: vor der ganzen Klasse verspottet zu werden. Sie erzählte von der überschießenden Wut, die Karls Aggression blind machte. Und sie schilderte ihre eigene Panik, als sie den sonst ruhigen Jungen so „außer sich“ erlebte. Sie verwies den Lehrer darauf, dass es gegen grundlegende ethische Werte verstoße, ein Kind mit körperlichen Mängeln bloß zu stellen und ihn als Person verächtlich zu machen.

Der Lehrer versuchte sein unanständiges Benehmen zu bagatellisieren: es wäre doch als Scherz gemeint gewesen; vielleicht hätte die Bemerkung Karl zur Gewichtsabnahme anregen können. Der Schüler habe eben den Spaß nicht verstanden, er sei zu sensibel. Müssen Schüler unsensibel werden, um einen Lehrer mit sadistischen Charakterzügen ertragen zu können?

Seelischer Lehrer-Sadismus –
„Es handelt sich doch nur um ein paar schwarze Schafe“

Es war zweifellos seelischer Sadismus, mit dem der Lehrer Karl quälte:

  • Der Lehrer demütigte den Jungen und fand offensichtlich Lust daran, ihn bloßzustellen.

  • Er verletzte den Schüler bewusst, denn er hatte die kränkende Situation gezielt vorbereitet.

  • Herr T. nutzte seine Macht, um den Jugendlichen klein und abhängig zu machen. Der konnte der Lehrerwillkür nicht ausweichen.

  • Der Lehrer übte seelische Gewalt aus: es war uneingeschränkte Macht, zu der er seine natürliche Erziehungsmacht missbrauchte.

  • Er brachte durch seine gewalttätige Über-Macht die ganze Klasse unter seine Kontrolle. Absolute Kontrolle über andere besitzen, ist ein wesentliches Kennzeichen des seelischen Sadismus.

Ein sadistischer Mensch quält andere, weil seine Gefühle verhärtet sind. Er kann sich selbst nicht zur geachteten Person machen. Dieses Unvermögen gleicht er mit der zerstörerischen Leidenschaft aus, Macht über andere zu haben und sie leiden zu machen. Die seelische Grausamkeit, der Wunsch, einen anderen zu demütigen, ist weiter verbreitet als körperlicher Sadismus. Denn das seelisch sadistische Handeln ist für den Sadisten weniger riskant; es wird dabei nicht körperliche Gewalt angewendet, vielmehr treffen das Kind kränkende Worte. Das durch Worte erzeugte seelische Leid kann allerdings schmerzhafter sein als das körperliche.

Nach dem entwürdigenden Vorfall in der Mathematikstunde berichteten die Mitschüler, wie sie die Szene wahrnahmen. Auch sie gewannen den Eindruck, bei der Abfrageszene an der Tafel habe der Lehrer den Jungen in voller Absicht gekränkt. Sie meinten, der Lehrer kostete die Überlegenheit aus, mit der er den Schüler klein machte. Es war eine gegen jede pädagogische Regel verstoßende Demoralisierung des Jugendlichen. Trotzdem fanden es weder der Schulleiter noch die Kollegen eine Empörung wert, sich von dem pädagogisch verwerflichen Lehrerverhalten zu distanzieren, einige von ihnen taten das allenfalls hinter vorgehaltener Hand. Dabei müsste man meinen, es käme Scham auf über einen Kollegen, der den Beruf des Lehrers so in Verruf bringt. Das ehrverletzende Lehrerverhalten konnte diesmal allerdings nicht, wie üblich, tabuiert werden; dafür sorgten Karls Eltern.

Seit 19 Jahren Klagen über Lehrer T. –
Karls Eltern retten die verlorene Ehre ihres Sohnes

In dem Gespräch bat die Mutter den Lehrer, sich vor der Klasse für sein erniedrigendes Verhalten zu entschuldigen, das würde die Situation versöhnlicher machen. Er weigerte sich entschieden: eine Entschuldigung sei ihm nicht zuzumuten, schließlich müsse er seine Autorität wahren. Vermutlich meinte er mit „Autorität“ die Gewalt, mit Schülern so zu verfahren, wie es ihm gerade gefällt. Seine wirkliche Autorität hatte er durch sein brutales Verhalten längst verloren. Nachdem sich der Lehrer weigerte, sein Unrecht gegenüber Karl einzugestehen, beschwerte sich die Mutter beim Schulleiter. Der beschwichtigte: Das müsse man nicht so ernst nehmen, Herr T. meint das nicht so, wir kennen ihn doch; er sei schließlich ein erfahrener Mathematiklehrer. Erfahren: Aber worin ist er erfahren? In der Methode, Kinder das Fürchten zu lehren, sie zu demütigen, sie zu schikanieren, sie an der Tafel sadistisch zu erniedrigen? „Erfahren“ in lernwirksamem Unterricht war er augenscheinlich nicht, denn die Schüler erzielten speziell in seinem Fach auffallend viele mangelhafte Leistungen.

Seit neunzehn Jahren beklagten sich Eltern wegen des rüden Umgangs des Lehrers mit den Jugendlichen. Gelegentlich stimmten auch Lehrerkollegen der Kritik zu, zum Beispiel der Verbindungslehrer, der von den Schülern immer wieder wegen deren Leiden bei Lehrer T. aufgesucht wurde. Sie beschwerten sich über die Taktlosigkeit des Lehrers. Zudem erwies er sich in vieler Augen als unfähig, Mathematik verstehbar zu machen. So erklären sich die vielen schlechten Noten, die er erteilen „muss“. Wie sollen Jugendliche Mathematik lernen, wenn die Angst vor dem Lehrer ihr Denken blockiert?

Karls Mutter versuchte, dem Schulleiter deutlich zu machen, dass der Lehrer mit seinem seelisch verletzenden Handeln nicht nur ihren Jungen schwer beleidigt habe. Er gäbe auch ein schlechtes moralisches Beispiel für die Schüler. Denn er zeige den Jugendlichen, wie ein Lehrer die Macht missbrauchen könne, um Schwächere nieder zu machen. Könnte nicht der Lehrer, so meinte die Mutter, sein unsoziales Verhalten durch eine selbstkritische Entschuldigung wenigstens korrigieren und durch seine Entschuldigung ein gutes Vorbild abgeben?

Der Schulleiter: „Auf moralische Überlegungen lasse ich mich nicht ein“ –
Lehrer ohne Moral?

Der Schulleiter sagte zur Mutter, er ließe sich ungern auf moralische Überlegungen ein und wolle sich mit moralischen Fragen nicht aufhalten. Er redete sich darauf hinaus, der Kollege selbst müsse wissen, was er zu tun habe. Auch über Argumente pädagogischer Vernunft setzte er sich selbstherrlich hinweg, offensichtlich kannte er solche nicht. Des Schulleiters Bemerkung, er wolle sich nicht auf „moralische Überlegungen“ einlassen, ist verblüffend offen und verweist auf einen Kernschaden der Schule: Über ein Lehrer-Handeln, das ethische Maßstäbe missachtet, darf nicht gesprochen werden. Karls Schulleiter und der Lehrer kennen offenbar kein soziales Gewissen. Oder sie unterdrücken es, wenn es darum geht, jene Einzelfälle von Lehrern zur Verantwortung zu ziehen, die Kinder seelisch verletzen. Da werden Menschenrechte missachtet, das Strafrecht wird ignoriert, Beschwerden der Eltern verschwinden in undurchschaubaren Bürokratien. Es fehlt an sittlicher Orientierungskraft, wo gerade Lehrer Personen mit normativer Autorität sein sollten.

Karls Eltern hatten den kränkenden Zwischenfall in der Mathematikstunde dokumentiert, verlässliche Zeugenaussagen der Mitschüler niedergeschrieben, und andere Schüler-Eltern dazu gewonnen, ihre Beobachtungen mitzuteilen. Sie wollten mit dieser Dokumentation ins Ministerium gehen und sie dann der Presse übergeben. Den Schulleiter und Herrn T. informierten sie über ihr Vorgehen. Daraufhin zeigte sich der Lehrer bereit, sich öffentlich zu entschuldigen. Er tat dies zwar verkniffen, aber er ließ Karl künftig in Ruhe und vermied sogar die sadistischen Szenen des Vorrechnens an der Tafel. Er hatte bei Karls Eltern keine von vornherein Unterlegenen vor sich wie bei den Schülern. Das zwang ihn dazu, seinen Macht-Missbrauch zu korrigieren.

Die zivilcouragierte Mutter hat nicht nur die Ehre ihres Sohnes verteidigt, sondern auch die Klasse vor dem verletzendem Lehrerverhalten geschützt. Ob der Lehrer nur aus Angst vor der Öffentlichkeit und vor Sanktionen seine schlimmsten Ausschreitungen einstellte, ist nicht feststellbar. Aber erkenntlich ist: Wenn sich viele Eltern moralisch verpflichtet fühlten und sich mit sozialem Mut vor ihre Kinder stellten, wäre die Würde des Schülers nicht antastbar.

Wenn Karl Amok gelaufen wäre –
„Die Schule hat keine Mitverantwortung“, wirklich nicht?

Karl hatte eine Mutter, die ihn mit seiner Wut und seinem Kummer auffing. Er fand in der Familie Halt. Nehmen wir an, die Lebenssituation eines vom Lehrer so erniedrigten Jugendlichen wäre nicht gefestigt gewesen, er hätte sich einsam gefühlt, wäre von Misserfolgen deprimiert, ohne Hoffnung auf Lebens-Chancen. Nehmen wir an, der Junge hätte zu Hause keine Mutter vorgefunden, die ihm Halt gab. Nehmen wir an, sein Vater hätte eine Schusswaffe im Nachttisch liegen gehabt und der Schüler hätte gewusst, wo er diese findet. Nehmen wir an, der Junge hätte einen großen Vorrat an Unglücks-Erfahrungen, die ihn explosiv reagieren lassen. Nehmen wir an, der Junge wäre wegen der Kränkung blindwütend in die Schule gerannt und hätte den Mathematiklehrer erschossen. Und dann sich selbst. Vielleicht wäre die grausame Tat, nach Nietzsche „das Heilmittel des verletzten Stolzes gewesen“?

„Wieder Gewalttat eines Schülers“, würden die Schlagzeilen lauten. Es wäre die Rede vom „unauffälligen Jugendlichen“, der immer „folgsam“ war. Seine Tat könne man sich schwer erklären, denn brutalisierendes Fernsehen, Gewalt-Videos, übermäßiger Internet-Konsum trafen bei ihm nicht zu. Was, wie so oft, verdeckt worden wäre, ist die Mitschuld der Schule: die des sadistischen Lehrers, des unmoralischen Schulleiters, der die Tat bagatellisierte und vertuschen wollte, die Mitschuld durch Schulbedingungen, die Eltern und Schüler machtlos machen, des Gewohnheitsrechts, dass Anstand und ethische Werte von Lehrern wie Herrn T. außer Kraft gesetzt werden können. Es wird verleugnet, dass bei einem solchen Verbrechen Gesellschaft und Schule mitverantwortlich sind. Auch dann, wenn sie nur einen Teil der Ursachen in sich tragen oder „nur“ Auslöser für die Tat sind wäre.

Damit ein Amoklauf oder Lehrermord sich nicht wiederholt, müssen alle Beteiligten den Ursachen einer solchen Drohung und Bedrohung nachgehen und Abhilfe schaffen. Dem entzieht sich die Schule weitgehend, wie sie es in Karls Fall demonstrierte. Statt zu analysieren, was individuelles Vergehen ist, was die familiären und gesellschaftlichen Hintergründe sind, und was im Zusammenhang mit schulischen Versäumnissen steht, wird der schulische Anteil zugedeckt. Die undifferenzierte Ausflucht – „An so einem Verbrechen ist doch nicht die Schule schuld“ – schließt die Frage aus: Welchen, wenn auch noch so geringen Anteil hat sie daran, dass das Verbrechen geschehen konnte? Wie könnte dieser geringe Anteil künftig ausgeschaltet werden? Weshalb ist es selbstverständlich, dass die „nur auslösende“ Situation der Demütigung oder schweren Kränkung bei manchen Lehrern zum Schul-Alltag gehört?

Einzelfälle, die nicht verfolgt werden –
Das Tabu des seelisch verletzenden Lehrerverhaltens aufheben

Nach den jüngsten Erfahrungen mit Presseberichten und behördlichen Kommentaren wäre die auslösende Situation für die von Karl fantasierte Tat kaum Thema gewesen. Denn der seelische Sadismus des Mathematiklehrers fällt unter das Tabu, Lehrer nicht zu kritisieren, auch nicht die sogenannten Einzelfälle, die Kinder ängstigen, demütigen und gezielt überfordern. Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, haben die Einzelfälle in der Schule die Besonderheit, dass sie geduldet werden, verniedlicht und verleugnet. Kommen sie dennoch an die Öffentlichkeit, werden die Täter nicht bestraft.

Anders wenn zum Beispiel ein Bundeswehroffizier seine Untergebenen unmenschlich behandelt, oder wenn ein Beamter ausländerfeindliche Parolen verkündet: Da werden die „Einzelfälle“ nicht nur aufgedeckt, sondern mit Strafen beantwortet. Bundeswehrsoldaten, die in ihrer Persönlichkeit verletzt werden, können sich beschweren. Über 6000 Beschwerden, Eingaben und Vorschläge hat der Wehrbeauftragte innerhalb eines Jahres von Soldaten bekommen. Wie viele Beschwerden wären es wohl, hätten die Millionen Schüler einen Schülerbeauftragten und sie könnten sich an ihn wenden? Da sie die Schwächsten in der Gesellschaft sind, bräuchten sie dringend Fürsprecher, die mit Macht ausgestattet sind.

Es war stadtbekannt, wie Herr T. seit fast zwei Jahrzehnten Schüler verspottet, Mathematik zum gefürchteten Fach macht, wie er Kinder beschimpft: Er lässt sie oft die ganze Stunde an der Tafel stehen, nachdem sie beim Vorrechnen scheiterten. Er beleidigt sie: „Für Mathematik ist dein Hirn zu klein“. Der Lehrer gilt als Tief-Beurteiler: Die Noten fallen bei ihm gegenüber dem vorausgehenden Lehrer um bis zu drei Notenstufen ab. Dabei ist nicht einzusehen, weshalb die Schüler plötzlich dümmer geworden sein sollen. Bei seinen Probearbeiten liegt der Klassendurchschnitt oft zwischen den Noten 4 und 4,5. Die Schüler werden als „Kindergartenkinder“ herabgesetzt, mit Bemerkungen entwertet wie: „Du bist für mich Luft“, „Dich frage ich nicht mehr, weil du sowieso zu dumm für eine Antwort bist.“ – Wie wäre es im umgekehrten Fall? Wenn die Schüler sagten: „Für einen Mathematiklehrer ist Ihr Hirn zu klein“ oder „Sie frage ich nicht mehr, weil Sie ohnehin zu dumm für eine Antwort sind.“

Eine Reihe von Kindern reagierte bei dem seelisch sadistischen Lehrer mit Schlafstörungen, Angstzuständen, psychosomatischen Symptomen wie Leibschmerzen und Kopfweh. Zwar versuchten einige couragierte Elternbeiräte immer wieder, das Unrecht öffentlich zu machen zum Beispiel mit Dienstaufsichtsbeschwerden. Aber sie wurden durch eine schamlose Hinhalte-Taktik kalt gestellt, Eingaben blieben monatelang liegen – bis die großen Ferien kamen, sich die äußere Situation veränderte, die Eltern mürbe wurden. Im Schulbereich werden undemokratische Verhältnisse aufrecht erhalten, die in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich denkbar wären. Obwohl alle – Eltern, Lehrerkollegen, Schulleitung, Schüler, Gemeinderäte, Bürgermeister, Pfarrer, Kinderschutzbund – seit fast zwei Jahrzehnten von dem strafbaren Verhalten des Mathematiklehrers wissen, bleibt das Tabu unantastbar: Wenn Einzelfälle von Lehrern gegen Gesetz, Schulrecht und Menschlichkeit verstoßen, darf darüber nicht gesprochen werden.

Der Eltern-Protest gegen den Macht-Missbrauch von Lehrern könnte den Schülern helfen

Karls Lehrer empfand Befriedigung daran, den Jungen zu verletzen. Er kostete die Überlegenheit aus, mit der er den Schüler „klein machen“ und ihm vorsätzlich Schmerz zufügen konnte. Der Mord an diesem Lehrer wäre eine unverhältnismäßige Antwort auf das Unrecht. Durch diese Unverhältnismäßigkeit gerät die vorausgegangene „Seelenverletzung“ des Lehrers leicht aus dem Blick. Aber auch bei einem Ereignis wie dem fantasierten Lehrermord muss die pädagogische Seite gesehen werden: die gegen jede moralische Regel verstoßende Erniedrigung des Schülers.

Was die verbrecherische Tat des Jugendlichen am Ende ausgelöst haben könnte, war die schwere Kränkung. Sie hätte zum Durchbruch der angestauten Aggression führen können. Die Demütigung traf den Jugendlichen besonders empfindlich; denn sein Selbstwertgefühl war vorgeschädigt. „Ich bin nichts wert“, sagte er einmal, „weil ich allen zu dick bin.“ Die Erfahrung, sich nicht als wertvolle Person behaupten zu können, kann zur Ursache überschießender aggressiver Antriebe werden.

Wegen der Verletzlichkeit des Selbstwertgefühls von Kindern und Jugendlichen, muss als Pädagogischer Imperativ unumstößlich gelten, sie nicht zu erniedrigen. Eltern und Lehrer können böse sein, wütend werden, schimpfen, kritisieren, sich gegen Übergriffe grenzenloser Ansprüche wehren, sie können strafen, sich ärgern; sie können in Zorn ausbrechen und es kann ihnen im Affekt passieren, unbedacht zu handeln. Nur eines sollten sie nicht: Jugendliche „klein machen“, Kinder entwerten, sie beleidigen und in ihrer Ehre verletzen. Genau das aber – einen Jugendlichen verächtlich machen – tat Karls Studienrat. Er verstieß gegen das Grundrecht der Würde des Menschen.

Konsequenzen, um den Lehrer-Sadismus“ abzuschaffen, und zwar sofort

Es gibt Lehrer, die können mit Kindern keine helfende pädagogische Beziehung eingehen. Sie sind für ihren Beruf ungeeignet, nicht nur, weil sie den Schülern das Lernen erschweren, sondern weil sie ihnen auch psychische Schäden zufügen können, die lange nachwirken. Durch die schulischen Machtverhältnisse werden die Kinder schutzlos verhaltensgestörten Lehrern ausgeliefert. Einige psychosoziale Mindestforderungen sind:

  • Der Macht-Missbrauch durch Lehrer-Sadismus ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Verletzung der Persönlichkeit

Unter Eltern, Lehrern, Schülern und Politikern muss das Bewusstsein geweckt werden, dass Lehrer, die Kinder seelisch beeinträchtigen, nicht Lehrer sein dürfen. Die Einzelfälle schwerer Kränkung werden derzeit in überwiegender Zahl geduldet oder verheimlicht oder bagatellisiert. Diese Duldung wirkt sich auf das gesamte Schulsystem wie ein Krankheitserreger aus. Der Macht-Missbrauch von Lehrern muss als Dienstvergehen geahndet werden.

  • Die Kränkung von Schülern darf nicht tabuiert werden. Eltern müssen sich solidarisieren und ihre Kinder schützen

Persönlichkeitsrechte gelten auch für Schüler. Kinder brauchen Hilfe, wenn sie unter der Gewalt einzelner Lehrer leiden. Schüler-Eltern, Lehrerkollegen und die Schüler selbst müssen durch Einspruch die Tabuierung verletzenden Lehrerverhaltens aufdecken und das Unrecht öffentlich machen, damit es eingestellt werden kann.

  • Jugendliche müssen darüber aufgeklärt werden, dass Menschenrechte auch für Schüler gelten

Sie sollen wissen, dass es nicht nur unanständig, sondern Unrecht ist, Kinder zu demütigen, auszulachen, zu kränken, wie auch umgekehrt Schüler die Persönlichkeitsrechte der Lehrer respektieren müssen. Die Fächer Ethikunterricht, Religion, Psychologie, Erziehungslehre, Deutschunterricht und andere müssen auch zu angewandter Ethik werden.

  • Schulleiter und Schulräte müssen Verantwortung übernehmen und die Kinder vor destruktivem Lehrerverhalten bewahren

Ministerialbeamte und andere Vorgesetzte, die den Lehrer-Sadismus unterstützen, zulassen, verharmlosen oder zudecken, sind für ihre unterlassene Sorgepflicht gegenüber Schülern öffentlich verantwortlich zu machen. Es muss aufgedeckt werden, dass sie die eigentlich Schuldigen sind, denn sie lassen das Unrecht geschehen.

  • Ein „Ethik-Rat“ soll Konflikte klären, die durch unmoralisches Lehrerhandeln entstehen

Innerhalb einer Schule können gewählte Vertreter von Lehrern, Schülern, Eltern, Schulpsychologen, Ethiklehrern, Mediatoren vermittelnd eingreifen, wenn Schüler von Lehrern und Lehrer von Schülern verletzt werden.

  • Das Gesetz über gewaltfreie Erziehung muss praktisch angewandt werden: Demütigung und seelische Züchtigung sind untersagt

Nach dem im Jahr 2000 erlassenen Gesetz sind körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig. Dieses Gesetz muss konkret in Unterrichtsgesetze und Schulordnungen eingehen und für Lehrer verpflichtend sein: Kinder bloß stellen, sie beleidigen, in ihrer Ehre verletzen, ihre Person entwerten, sie geistig und körperlich überfordern: das sind nicht nur pädagogische Vergehen, sondern strafbare Handlungen.

  • Den Schülern ermöglichen, sich an neutrale Instanzen zu wenden, wenn sie durch die Schule in Not geraten

Sie brauchen Einrichtungen wie Kontakt-Telefon, unabhängige Schülerberatungs-Stellen, Schulpsychologen und Sozialpädagogen, psychosoziale Betreuung, unentgeltlichen Rechtsschutz.

  • Politische Schülerbeauftragte wachen darüber, dass demokratische Grundrechte auch Schülern zugestanden werden

Bei Gruppen abhängiger Bürger wachen Beauftragte der Bundesregierung darüber, dass deren demokratische Rechte eingehalten werden: Wehrbeauftragte für Soldaten, Frauenbeauftragte für Frauen, Ausländerbeauftragte für ausländische Bürger, Beauftragte für Patienten, einen Ombudsrat für Arbeitslose. „Kinderbeauftragte“, wo es sie – meist ehrenamtlich – gibt, kümmern sich nicht ausreichend um die schulischen Belange. Auch sie unterliegen oftmals dem Tabu, Lehrer nicht zu kritisieren. Weil Schülerinnen und Schüler in einer ungewöhnlich abhängigen Stellung sind, brauchen sie „Treuhänder“, die ihre demokratischen Rechte gegenüber Lehrern und Schulbehörde durchsetzen.

22.August 2004

    Dazu auf diesen Internet-Seiten:

      • Einzelfälle: Kindern helfen, wenn Lehrer sie kränken
      • Angst vor dem Aufgerufenwerden im Unterricht
      • Worte können töten – im wahren Sinn des Wortes.
        Das Tabu: Gewalt durch verletzende Lehrer-Worte
      • Alle Welt gegen wehrlose Schulanfänger.
        Macht-Missbrauch einer sadistischen Lehrerin
      • Die heimliche Gewalt der Schule – staatlich gefördert?

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